Freitag, 21. Februar 2014

Die Dürrenmatte / Tag der Muttersprache.

Der Asteroid 14041 wurde im Jahr 2000 nach dem Schweizer Schriftsteller Dürrenmatt benannt.
14041. Ein Palindrom.
Ich musste ein wenig grinsen. Physiker benennen einen palindromen Asteroiden zur Jahrtausendwende nach einem Schriftsteller, zu dessen Gesamtwerk ein Buch über verschwörungstheoretische, verrückte Physiker zählt.
Wer auch immer diese Person ist,  die Asteroid 14041 nach Dürrenmatt benannt hat, ich würde gerne mit ihr Kaffee trinken gehen. Zum einen, weil sie wohl eine ähnliche Vorliebe zu Dürrenmatts Literatur teilt, zum andern weil ein ausgereifter Sinn für Humor dazugehört gerade diese Zahlenfolge in diesem Jahr nach eben diesem Schriftsteller zu benennen. Und selbst wenn der asteroidennamengebende Person dieser Zufall nicht aufgefallen ist, würde ich sie gerne treffen, um sie auf das Zahlenpalindrom aufmerksam zu machen und überdies würde ich gerne fragen, was ich denn studieren muss, um später Asteroiden Namen zu geben.

Vergessen sind nun alle guten Vorsätze eines Jurastudiums oder sonstiger humanistischer Ausbildung: Nein, wenn ich groß bin, möchte ich Namen an Asteroiden vergeben!
Endlich ein Anhaltspunkt, um konkret in die Zukunft zu planen! Wenn jemand Ahnung von Zukunft hat, dann eine Person, die sich mit Asteroiden, Literatur und Verschwörungstheorien auskennt. Vielleicht füllt sich mein Lebensplan endlich mit etwas mehr Substanz, sodass ich auf die Frage "was willst du denn später machen?" mit einem konkreten Studiengang antworten kann und nicht mehr die Wahrheit aussprechen muss, die derzeit aus dem Satz besteht: "Ich möchte später auf schnieken Events mit wichtigen Menschen Häppchen essen und mich danach angeregt mit interessanten Menschen bei einer guten Tasse Kaffee unterhalten." 
Jetzt wird dem nämlich hinzugefügt: "PS: Haupt- oder nebenberuflich möchte ich Asteroiden Namen geben und mich mit dem Namensgeber des 14041 befreunden."

Ich leide unter einer kleinen Netzwerkneugierneurose und habe mittlerweile "Dinge googlen" als Hobby in meinen Lebenslauf integriert. Die Frage, die mich heute Nacht eigentlich beschäftigt hatte, war nämlich, wie viele Bücher von Dürrenmatts Gesamtwerk ich bereits gelesen hatte. Dabei musste ich feststellen, dass erstens wikipedia das Gesamtwerk überhaupt nicht vollständig aufführt und zweitens, dass ich mich nicht mehr ganz erinnern konnte, welche von den aufgeführten Titeln bereits durch meine Hände gewandert waren.
Weniger schockierte mich, dass mir die genauen Titel entfallen waren, als vielmehr die Tatsache, dass ich mich auch an den Inhalt sämtlicher meiner Lektüren nicht entsinnen konnte.
Vielleicht war dieser Inhalt das Problem. Dem traut man heutzutage sowieso nicht mehr ganz, könnte ja Pferdefleisch drin sein.
Mich hat neulich jemand nach dem Inhalt meines Blogs gefragt. Ist eigentlich jemals irgendjemanden aufgefallen, dass ich relativ wenig darüber schreibe, was ich wirklich mache in Island?
Das ist ja gerade: Meine Zeit in Island ist nur ein Vorwand, um über so etwas wie Verschwörungstheorien und meine Liebe zu Dürrenmatt zu schreiben. Also was hätte ich antworten sollen? Ich redete etwas von Schreiben, um des Schreibens Willen und lenkte das Gespräch schnell in eine andere Richtung.

Nun musste ich heute Nacht aber feststellen, dass ich wohl ebenso auch nur um des Lesens Willen lese, denn wie ich gedanklich den Inhalt aller Bücher durchging, die ich nach dem Abitur gelesen hatte, blieb nur: "dieses Buch mit dem ausgestopften Okapi und dem zweiten Weltkrieg", Murmeln in Griechenland, irgendwas über Bücher, Moral, und wieder Krieg? Ah, und natürlich das mit der Schlange und dem Zaubergarten... sagen wir, das Ergebnis würde nicht einmal für eine mittelmäßige Inhaltsangabe reichen.

Derzeit lese ich das Frühwerk Dürrenmatts und auch wenn ich schon morgen nicht mehr den Inhalt werde wiedergeben können, möchte ich zu diesem Prosawerk sagen: "Nun ja, jeder fängt klein an!"
Ich habe heute zudem einen Roman über den Schrebergarten eines russischen Schriftstellers begonnen, der dort behauptet, dass sich überwiegend Männer mit der Frage beschäftigen, was bleibt, wenn sie einmal sterben.
Hm. Stimmt wohl, ich habe bei dieser Frage nämlich kläglich versagt. Denn an die Menschen, die Namen an Asteroiden vergeben, erinnert man sich später nicht. Nur an die, deren Namen vergeben werden.
Aber "nun ja, jeder fängt klein an!"




Samstag, 15. Februar 2014

Politik und Weltgeschehen.

"What do you say when a volunteer dies?" - "he youthpassed away."

Ich befinde mich auf einem Seminar, das ich besuchen muss. Das steht zumindest in meinem Vertrag. In meinem Vertrag steht aber nicht, was passiert, wenn ich dieses Seminar nicht besucht hätte. Um ehrlich zu sein würde ich gerne wissen was passiert wäre.
Wahrscheinlich ist der Absatz "der Freiwillige ist dazu verpflichtet das Mid Term Training zu besuchen" mit der pädagogisch wertvollen Methode des "Ich zähle bis Drei" zu vergleichen. Ist jemals etwas Unerwartetes passiert, wenn eine Person mit Bildungsauftrag bis Drei gezählt hat? Hat sich die Welt geändert, ist die Situation kollabiert oder der Erdmagnetismus ausser Kontrolle geraten?
Dass nochmals aufs Neue wiederholt wird, dass man eigentlich hätte etwas tun, bzw. nicht tun sollen, ist jetzt wahrlich nichts derart Aufregendes, dass man dafür über eine kleine Vollkommenheit hinweg einen Spannungsbogen aufbauen müsste. Wiederholungen sind doch eigentlich eher langweilig. Darin liegt die kleine Ironie des Bis drei Zählens. Wahrscheinlich also hätte Europa bis drei gezählt und ich hätte Mails von Beauftragten der Beauftragten erhalten, die mich an meine Pflichten als Freiwillige erinnert hätten, doch letztlich gäbe es außer dem Eintreten von Langeweile keine weitere Interaktion.

Vielleicht aber wäre Europa interveniert. Die Staatsanwaltschaft hätte Anklage gegen mich erhoben und ich hätte für fünf Jahre eine Haftstrafe wegen Steuerhinterziehung und Vertragsbuch antreten müssen. Doch bevor das alles hätte passieren können, hätte ich mich schon längst selbst angezeigt und Europa würde ganz schön blöd aus der Wäsche schauen. Das ganze wäre zwar etwas aufwendig gewesen, aber ich hätte weder das Seminar, noch die Haftstrafe antreten müssen.

Ich habe festgestellt, dass ich kein großer Freund von Seminaren bin. Zumindest nicht von Seminaren dieser Art. Zur Visualisierung: Es sitzen sechzehn - juristisch gesehen - erwachsene Menschen in einem Stuhlkreis und starren an eine Wand, an der ein Plakat hängt, dass mit bunten Post-It's veranschaulichen soll, wie der Ablauf des gerade begonnen Tages für diese jungen Menschen aussehen wird. Damit aber die visuelle mit der auditiven Ebene verknüpft wird, stehen zwei etwas übermotivierte Trainer neben dem großen Stück Zellulose und erklären in einem ernsten Tonfall jeden einzelnen Schritt und lesen - für den Fall, dass eine Minderheit der Analphabeten präsent sein sollte - die einzelnen Tageszeiten immer abwechselnd vor.
Ich kann nicht sagen, was genau der Inhalt des Seminars zwischen Kaffeepause I und II sein soll, aber so wie ich das verstanden habe, ist das eigentlich auch nicht allzu relevant, denn wichtig ist, dass jeder sich selbst findet, im Einklang mit der Welt lebt und inspirierende Gemeinschaft erfährt.
Meine Gedanken kreisen um wirre Verschwörungstheorien, in denen ich Europa als eine gehirnwaschende Sekte sehe, die junge Menschen versucht zu begeistern, indem sie Geld. Kaffee und "gute Laune" fließen lässt. Die ganze Veranstaltung wird für mich immer grotesker, denn Sarkasmus wird als Täuschungsmittel bewusst eingesetzt, um mich zu verwirren.
Anstatt, dass ich - als Kritikerin "moderner 'Lernmethoden'" (ich kann gar nicht genug Anführungsstriche setzen!) - aufgefordert werde mich am Seminar zu beteiligen, werde ich in einem erzwungenen höflichen Ton darauf "aufmerksam gemacht", dass dies hier "ein Angebot" ist, um mir zu helfen und dass ich "herzlich willkommen bin" dies anzunehmen. "Freut mich", antworte ich und lehne dieses Angebot dankend ab, um mich wieder wichtigeren Dingen wie Häkeln oder Schlafen zu widmen.
Ich muss einer Gruppe von Menschen, die ich teilweise erst zwei Mal in meinem Leben gesehen habe, von den Momenten in den vergangenen fünf Monaten erzählen, die mich den höheren Sinn der Welt haben erkennen lassen und alle sollen merken, wie sehr ich doch gewachsen bin. Auch wenn ich niemanden frage, bekomme ich Ratschläge für meine Zukunft und mein Herz schreit nur: "ja, ja, bitte mehr lustige Kennenlernspiele!"
Es gibt eine extra "Session", in der erklärt wird, wie wir unsere informalen Lernerlebnisse als Kernkompetenzen in einem (oho!) Zertifikat präzise formulieren können, damit unser zukünftiger Arbeitgeber aus unseren Soft Skills schöpfen kann. Um aus dem Musterbogen des sogenannten "Youth Pass" zu zitieren, könnte Lisa Mustermann zum Beispiel schreiben: "Während meinem Aufenthalt als Freiwillige habe ich unter anderem gelernt mit modernen Medien umzugehen und weiß nun wie ich mit meinem Freunden über Skype in Kontakt bleiben kann. Dies habe ich mir selbst beigebracht und somit meine Kompetenz der Selbstständigkeit weiter ausgebaut."
Um es freundlich auszudrücken, liebe Macher des Youthpasses und liebe Lisa Mustermann, wäre ich ein Arbeitgeber, würde ich neben die schöne Umschreibung der Soft Skills mit einem roten Stift schreiben: "Es ist nur sehr schade, dass durch das Erlernen all deiner Kompetenzen deine Intelligenz leider auf der Strecke geblieben ist, denn sonst würdest du wissen, dass es in der heutigen Zeit keine Kunst mehr ist eine Webcam zu benutzen."
Schön waren vor allem die Momente, in denen wir uns alle all die Probleme aller anhören mussten, Entschuldigung, "durften". Ich weiß ja - bei allem Respekt - nicht genau, was die Erwartungen einzelner Menschen waren (obwohl wir auch das ausführlich bearbeitet haben), aber wenn man sich beschwert, dass man "nur als Arbeitskraft" angesehen wird, haben entweder die anderen Freiwilligen oder ich etwas an dem Wort "Arbeit" falsch verstanden. Denn üblicherweise ist man eine Arbeitskraft, wenn man (freiwillig) arbeitet und stellt nicht die Verbindung zur Weltharmonie in Form eines jungen Menschen dar. Als sich herausstellte, dass viele der Meckernden ihrerseits aber niemals versucht haben in höherer Instanz Konsequenzen zu ziehen, wurde der Anwesenden der Nationalagentur der Wunsch nahegelegt, sich doch etwas mehr um die Freiwilligen zu kümmern, weil einige Freiwillige wohl etwas zu schüchtern seien, um Probleme mit Ihren Verantwortlichen zu besprechen. In diesem Moment wurde auch ich ein Teil der Sekte, ja, auch ich hatte ein informelles Lernerlebnis und schrieb auf das Arbeitsblatt, das den Fluss meiner Entwicklung darstellte unter die Zeile "Ziele für die Zukunft": "Niemals mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen zusammenarbeiten. Sich für mehr Frontalunterricht einsetzen. Larifari verbieten und am Montag einen Kuchen für die Arbeit backen, um danke zu sagen, dass ich eine Arbeitskraft sein darf, die gebraucht wird."

Sonntag, 2. Februar 2014

"denn wer eine Angel hat, hat auch immer Fische." Oh, wie schön ist Panama.

Fast fünf Monate liegt es jetzt zurück, dass ich an meinem ersten Arbeitstag zehn Minuten zu spät erschien, da mich mein Orientierungssinn mal wieder im Stich lies. Herzlichst wenig beeindruckt von meinem panischen Versuch mich zu entschuldigen, wurde ich mit "zu spät? das habe ich gar nicht gemerkt." empfangen.

18 Jahre meines Lebens habe ich in einer wohl behüteten schwäbischen Metropole verbracht. Wenn ich an dieser Stelle von "Metropole" spreche, meine ich das nicht ironisch, wie manch ein Provinzneider meinen könnte, sondern spreche ein Wort aus, das auf vielschichtige Weise Stuttgart genau als das bezeichnet, was es ist.
Beginnen wir mit dem persönlichen, emotionalen Aspekt der "Metropole Stuttgart": Das Wort leitet sich vom griechischen "mētrópolis" = "Mutterstadt" ab. Da ich vor ziemlich genau 19 Jahren und einem Monat in einer Entbindungsstation der Baden-Württembergischen Landeshauptstadt zur Welt gekommen bin (die heute ein Altenheim ist) und durch die Tatsache, dass ich einen wichtigen (?) Beitrag für Europa leiste und Eure Steuergelder in Islands angeschlagene Wirtschaft verfrachte, gehöre ich wohl zu den Töchtern der Stadt und kann in Grönemeyer'scher Manier singen: "Stuttgart, ich komm aus dir!"

Jedoch ist mir in Reykjavik klar geworden, dass der Metropolencharakter Stuttgarts größer ist als dass man ihn auf der emotionalen Ebene belassen könnte. 
"größer": Stuttgart beherbergt ca. 600.000 Einwohner in seinem grünen Kessel, was ziemlich genau fünf Mal Reykjavik ist. Und das merkt man. "Hi Typ, der im Museum arbeitet." - "Ah, hallo, Mutter aus dem Kindergarten, ich wusste gar nicht, dass du auch in Bar Paloma feiern gehst." - "Stimmt. Ihr seid ja verwandt..." und "Hallo Björk!"
Ab und an fühle ich fast ein wenig isländischen Kaff-Flair, wenn sonntags der erste Bus um 12 Uhr fährt und wenn der Bürgermeister-Junge über den Zaun in den Kindergarten klettert.

Nun muss neben der Größe einer Stadt natürlich auch ihre raumwissenschaftliche Bedeutung untersucht werden. Denn eine Metropole beinhaltet bestimmte Metropolfunktionien, die " auf einen großen räumlichen oder sachlichen Versorgungs-, Einzugs-, Zuständigkeits- oder Kontrollbereich ausstrahlen und daher einen hohen Rang in der Städtehierarchie einnehmen" Diese können in historischer, kultureller, politischer oder wirtschaftlicher Hinsicht für eine Region relevant sein. Im Vergleich zu meiner jetzigen "Heimatstadt" ist meine Mutterstadt überhaupt irgendwie für irgendwas ein wenig relevant gewesen. An dieser Stelle denke man bitte an die Weißenhofsiedlung, an Bosch, an die Fantastischen Vier, an die Söhne der Stadt Hegel, Willi Baumeister, Graf von Stauffenberg. 
Reykjavik ist im Gesamtzusammenhang wohl eher eine Patropole, wenn ich diesen Neologismus als Gegenteil für das Wort "Metropole" in der deutschen Sprache etablieren darf. Kulturell sollte Reykjaviks Titel der "UNESCO Literaturstadt" nicht verschwiegen werden, doch im selben Atemzug bitte ich die Macher der Internetseite des Nordhauses, in dem (anscheinend) ab und an Lesungen stattfinden, auf einen aktuelleren Stand als 2012 zu bringen. Ich möchte ebenso ein großes Lob an das Konzerthaus Harpa aussprechen, das sowohl kulturell, als auch architektonisch einiges zu bieten hat und möchte aber ebenso ein wenig die fehlende Bautradition in Island beweinen. Ich danke Reykjavik dafür, dass ich für einen Jahresbeitrag von nicht mal 20 Euro alle großen Ausstellungen in der Stadt besichtigen darf und rüge aber gleichzeitig den Kurator im Reykjavik Artmuseum, der das wohl nicht ganz verstanden hat, dass die Raumwahl bei manchen Kunstwerken doch nicht ganz irrelevant ist. (Warum durchbricht eine Säule das Werk?!)
Wirtschaftlich bleibt es dann bei Fisch und Bananen. Ja, Bananen! (http://www.grapevine.is/Home/ReadArticle/The-Mythical-Banana-Kingdom-Of-Iceland-    http://en.wikipedia.org/wiki/Banana_production_in_Iceland)

Überdies würde ich auf die politischen Ebene meiner Patropole zu sprechen kommen.
Mich zieht es wohl von einer Revoluzzerstadt in die nächste. In Stuttgart erinnern wir uns an einen Bahnhof, an Wutbürger und an einen revolutionären rot-grünen Schritt nach fünfzig Jahren Kehrwoche. 
Im Vergleich dazu möchte ich einen kurzen Auszug aus dem Wahlprogramm meines Nachbarn, dem amtierenden Bürgermeister Reykjaviks präsentieren: 1. offene statt heimlich Korruption 2. kostenlose Handtücher für alle Schwimmbäder 3. Ein Eisbär für Reykjaviks Zoo.
Was die Politik im Kleineren betrifft, habe ich neulich auf der Büroeinweihungsfeier einer Studentenbewegung einen Isländer gefragt, für was er sich denn dort eigentlich engagieren würde. Seine Antwort war: "Weißt du, in Island gibt es nur zwei Studentenorganisationen, die genau das gleiche Programm haben. Bei den Wahlen entscheidet dann, wer die bessere Party hatte und wo es mehr Freibier gab. Ich engagiere mich, weil mein bester Freund hier ist und wir dann zusammen immer aufs Land fahren und wir dort dann ein ganzes Wochenende trinken können." Nun, wenn das mal kein Grund um politisch aktiv zu werden!

18 Jahre verbrachte ich in einer deutschen Metropole, in einer Region, die für Sparsamkeit und Fleiß steht und habe aufgrund eines fehlenden Vergleiches geglaubt, dass "deutsche Pünktlichkeit und Arbeitsmoral" nur internationale Vorurteile sind. Als mein spanischer Mitbewohner, der in den ersten zwei Monaten jeden Tag mindestens 40 Minuten zur spät zur Arbeit erschien, mir dann aber tatsächlich nicht glauben wollte, dass ich mir meine Ausgaben notierte und mir daraufhin "Spontanität" erklärte, verlies mein slowakischer Mitbewohner nur den Raum mit den Worten "Ihr repräsentiert die Stereotypen Deutschland und Spanien für den Freiwilligendienst und die Slowakei sagt dazu nur Gute Nacht." Dass man Dinge ernst nimmt, pünktlich erscheint und alles nach Recht und Ordnung verläuft, war für mich bisher selbstverständlich. 
Dass dem vielleicht nur in Deutschland so ist, stellte ich fest, als mich eine Isländerin ganz aufgebracht fragte, ob das denn stimmen würde, dass man in Deutschland sein Geld zurückbekommt, wenn die Bahn Verspätung hat. Ich glaube das war tatsächlich das erste Mal in meinem Leben, dass ich jemanden von der Deutschen Bahn habe schwärmen hören. 
Ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt, dass Läden manchmal schließen, weil der Besitzer noch verkatert ist, dass das vegetarische Essen, dass man sich bestellt hat, verdächtig nach Fleisch schmeckt, dass der Bus manchmal einfach nicht kommt und der Busfahrer dafür aber auch Menschen ohne Busticket von der Straße aufsammelt und sagt: "Das Busunternehmen verliert sowieso jedes Jahr 100.000de Kronen, weil keiner für ein Ticket zahlt, also steigt ein!" Und manchmal hören Firmen auf zu existieren "Es gibt keine Biomilch mehr in Island. Der Bauer liefert nicht mehr." oder "Euer Internet funktioniert seit drei Stunden nicht? Ich ruf mal bei der Firma an und frage, ob sie gerade pleite gegangen sind!"

Mir stellt sich die Frage nach kulturellen Käfigen in einer globalen Welt und doch glaube ich für meinen Teil hier ein wenig deutsche Kleinkariertheit abgelegt zu haben. Ich schreibe jetzt nur noch Beschwerdebriefe an Firmen, von denen ich mir gratis Produkte als Entschädigung für meine unerfüllten Erwartungen erhoffe. 
Und morgen früh werde ich erst um "fünf nach" zur Arbeit erscheinen.