Sonntag, 15. November 2015

Pro Problematik!

Neulich habe ich mit einem Freund telefoniert, der dieses Semester begonnen hat an der Kunstakademie in Stuttgart zu studieren.
"Ja, und sonst so?"
"Alles cool."
"Aber erzähl doch mal, wie ist es an der AKA?"
"Hm. Es ist schon alles super. Aber weißt du, mir läuft das hier alles zu rund. Mein Professor sagt, ich soll mir selbst mehr Probleme machen. Davon lebt die Kunst."

Am selben Tag las ich einen Artikel über die Sängerin Adele, die Ende des Monats ihr neues Album veröffentlicht. Überschrift des Artikels: "Ich hatte Probleme, mich an das Glücklichsein zu gewöhnen". Im Interview sagt sie: "Früher schrieb ich aus tiefer Verzweiflung heraus. Aber was macht man, wenn die nicht mehr da ist?" 
Vielleicht ist das das größte Dilemma, in das man als junger Mensch geraten kann. Das größte Unglück: glücklich zu sein. Eine Lebensphilosophie des Absurden: Das größte Problem keine zu haben.

Angenommen besagter Freund an der Kunstakademie würde nun das Problem eben keines zu haben in seinem Projekt bearbeiten. Was wäre das Ergebnis? Er hätte nun ein zu bearbeitendes Problem. Damit würde sein gesamtes Projekt überhaupt keinen Sinn ergeben. Er wäre ein kleiner Lügner zu behaupten er mache Kunst über das Problem keine Probleme zu haben, denn er bearbeitet schließlich eins. 


Die Problematik des Problems gleicht der Quadratur des Kreises. Selbst Wikipedia verstrickt sich in einem unlösbaren Artikel und lässt mich mit großen Fragezeichen auf dem Gesicht vor meinem Laptop zurück.

"Ein Problem nennt man eine Aufgabe oder Streitfrage, deren Lösung mit Schwierigkeiten verbunden ist. Probleme stellen Hindernisse dar, die überwunden oder umgangen werden müssen, um von einer unbefriedigenden Ausgangssituation in eine befriedigendere Zielsituation zu gelangen. (....) Nicht alle Probleme sind lösbar, (...) Arbeitsaufwand in die Lösung erwiesenermaßen unlösbarer Probleme zu stecken ist nicht sinnvoll. In diesem Fall kann eine Umgehungslösung (engl. workaround) des Problems helfen. Das angepeilte Ziel wird dann so abgeändert, dass sich das Problem gar nicht mehr stellt." 

Wie soll man besagtem Freund denn nun helfen, wenn der Arbeitsaufwand in die Lösung eines unlösbaren Problems nicht sinnvoll ist? Ich sollte eine SMS schreiben: "Hallo, du stehst vor einem unlösbaren Problem. Gib auf! Warte bis du richtige Probleme hast. Das, was du da tust, ist unsinnvoll!!"
Etwas bedenklich, Wikipedias Aussage. Denn gehen wir davon aus ich gehöre der Generation junger Menschen an, für die das größte Problem ist, keines zu haben. Dann würde ich ganz tief drin stecken einer unlösbaren Quadratur des Kreises. Über eine Lösung nachzudenken ist unsinnvol. Ergo: All diese Worte, die ich hier verschwendet habe, strotzen nur so von Sinnlosigkeit. Besser wäre es ein workaround zu finden, sodass sich das Problem nicht mehr stellt. Aber versuche ich mit einer Umgehungslösung nicht auch das Problem zu lösen? Es stellt sich schließlich danach nicht mehr. Das bedeutet: Ich bin zu einer befriedigten Zielsituation gelangt. Damit ist das unlösbare Problem gelöst. - Was wiederum absurd ist.

Was also tun? Den Text an dieser Stelle abbrechen und den Link zu einem Katzenvideo unter diese Worte setzen?
Vielleicht wäre es sinnvoll die Frage zu stellen, was denn sinnvoll ist. Wikipedia hat eine Antwort:

"Um ein Problem lösen zu können, kann es sinnvoll sein, es in einfachere Unteraufgaben zu zerteilen oder auf ein bereits gelöstes Problem zurückzuführen oder die Ausgangssituation auf ungewohnte Art und Weise zu betrachten."

Nun gut. Schlagen wir nochmals den Bogen zum Anfang. Mein Freund an der Kunstakademie und Adele haben das Problem, keines zu haben. Bedeutet dies nicht im Umkehrschluss, dass wir glücklicher sind, wenn wir unglücklich sind? Ein unlösbares Problem. Mist. Aber zumindest ein schöner Gedanke, dass das Streben nach Etwas glücklicher macht als das Ankommen.
Der Weg ist das Ziel. Eine weitere völlig sinnlose Aussage.


Soll ich ein weiteres Fass aufmachen und fragen, wass denn ein "Sinn" ist?
Mir ist einmal jemand sehr harsch ins Wort gefallen, als ich sagte: "Das macht Sinn!" - Er äffte mich nach und sagte: "Das macht Sinn! Nichts macht Sinn! Wie willst du denn Sinn machen? herstellen? produzieren? Das ist ein furchtbar sinnloser Anglizismus. To make sense. Völlig sinnlos in die deutsche Sprache übernommen. Es ergibt Sinn! Es ergibt Sinn!"

Ich wage es noch einmal meine Antwort in Wikipedia zu finden:

"Als Sinn wird die physiologische Wahrnehmung der Umwelt mit Sinnesorganen bezeichnet." Leider schmecke ich Adeles' Problem nocht nicht.

"Sinn ist der Bedeutungs­gehalt beispielsweise eines sprachlichen Ausdrucks." Aha.

"Im engsten Sinn ist damit [dem Sinn des Lebens] die „Deutung des Verhältnisses, in dem der Mensch zu seiner Welt steht“, gemeint." Der engste Sinn des Sinns also. So. So.

"Sinn ist der Name folgender geographischer Objekte:
  • Schmale Sinn, rechter Zufluss der Sinn in Hessen und Bayern
  • Sinn (Fluss), rechter Zufluss der Fränkischen Saale in Hessen und Bayern
  • Sinn (Hessen), Gemeinde im Lahn-Dill-Kreis in Hessen" 

Was soll ich sagen? Die Artikel über Sinn verstrickten sich teils auch in unlösbare Probleme, deretwegen ich die Artikel begonnen hatte zu lesen. "In diesem Fall kann eine Umgehungslösung (engl. workaround) des Problems helfen." 

Ich öffnete nochmals den Artikel zu "Sinn (Hessen)" 

"Geografische Lage

Sinn liegt in 185 bis 356 Meter Höhe am Fuß des Westerwaldes, 3 km südlich von Herborn im Dilltal."

Ich schreibe eine weitere SMS an den Freund an der Kunstakademie: "Du stehst vor einem unlösbaren Problem. Darüber nachzudenken ist unsinnvoll. Wenn du wissen möchtest, was Sinn ist, fahre 2 Stunden und 45 Minuten nach Norden. Sinn liegt in 185 bis 356 Meter Höhe am Fuß des Westerwaldes. Mache einen Spaziergang und genieße den Sonntag! Es könnte dein Problem lösen."

Mittwoch, 2. September 2015

Economy Island


„Es la cobra“ - „TAKA TAKA“, ruft die ganze Band im Chor. Mario streift sich ein dunkles T-Shirt mit Schlangenprint über und zieht sein iPhone aus der Hosentasche. „Taka takaa takaa takka taka taka“ Héctor schaut auf den kleinen Bildschirm in Marios Hand und lacht herzhaft über den Mann in Bademantel, der sich eine Socke über die Hand gestülpt hat und sie wie eine Kobra zu seinem wirren Sprechgesang kreisen lässt. „Das hat mir Mario gestern gezeigt, als ich nicht schlafen konnte“, sagt Héctor. Die Cobra Taka Taka wird uns die nächste Zeit begleiten. Manchmal spricht Mario den Text vor bis zu der Stelle, an der die Kobra aus einem Schwimmbecken kommt. „De una piscina“, brüllt Julia dann. Es sind die einzigen Worte, die sie auf Spanisch sagen kann.

Ob ich noch einen Kaffee möchte, fragt Julia. „Och, warum nicht“, sage ich. Julia setzt den Espressomaker auf den Induktionsherd. Mario schüttelt den Kopf und steckt sein Handy wieder ein. „Das ist doch sicher dein fünfter Kaffee heute.“ - Julia zählt. „Nein, der vierte! Und etwas müde bin ich immer noch.“ Mario erwidert mit erneutem Kopfschütteln „Du hast Probleme, Julia. Anämie!“

Es ist Anfang August. Girls on Bikes haben sich in der Heimatstadt der Brüder Héctor und Mario in der Region Asturias, im Norden Spaniens getroffen, um mit befreundeten Musikern aufzunehmen. In Asturias seien einige der schönsten Strände Spaniens zu finden, heißt es. Das Klima und die Landschaft unterscheiden sich stark vom Rest des Landes. „Jeden Tag regnet es hier mindestens einmal“, sagt Mario. „Aber nie so richtig. Das ist noch weniger als Nieselregen. Man nennt den Regen orbayu. Deshalb ist es hier auch so grün.“ Von der schönen Landschaft und den Stränden ist in dieser Kleinstadt jedoch nicht allzu viel zu sehen. Las Vegas heißt der Ort mit knapp 8.000 Einwohnern, der größtenteils aus Betonblöcken und Rentnern besteht. „Beste Straße“, sagt Mario, als wir in eine verlassene Seitengasse gehen, um zum Supermarkt zu laufen. Er zeigt auf ein zerfallenes Haus, dessen Dachfenster von einem Banner ZU VERKAUFEN verdeckt werden. „Bandimmobilien“, sagt er und lacht. Julia möchte sich im Supermarkt noch eine Flasche Wasser kaufen, weil ihr das lokale Leitungswasser nicht allzu gut bekommt. „Bestes Quellwasser!“, sagt Héctor „nach einer Woche schmeckst du das Chlor gar nicht mehr. Von Bakterien kann man sterben, von Chemie nicht.“ Wir überqueren die Straße. Mario bleibt vor einem Schaufenster mit Damenklamotten stehen. „Eh, das musst du bei unserem Auftritt anziehen.“ Er zeigt auf ein weißes Kleid im 60er Jahre Stil mit großen, gelben Punkten. „Und wir beide schwarz. Ich natürlich mit Kobrashirt.“ „TAKA TAKA“, sagt Julia und schüttelt den Kopf. „Wir können abstimmen“, sagt Héctor „wir sind eine demokratische Band. Auch wenn ich das Sagen habe.“ Héctor und Mario heben die Hand. „Zwei gegen Eins. Dann gehörst du auch endlich dazu. Du hast ein Kleid aus dem Block.“ Mario rüttelt an der Tür. Der Laden hat wegen Urlaub geschlossen.

Ob ich auch ein Schluck Wasser möchte, fragt Julia. „Oder einen Kaffee?“ Mario zwinkert. Nein, danke, aber wie sich die Band gefunden hat, würde ich gerne wissen.
Julia: „Übers Internet. Héctor hat Musiker im Raum Heidelberg auf quoka gesucht. Ich habe mich auf die Anzeige gemeldet. Mario hat bei der ersten Probe damals noch nicht so gut Deutsch gesprochen. Er fragte mich was ich studiere. Ich sagte ich sei Jurastudentin. Daraufhin antwortete er: „das macht nichts.“ Was er eigentlich meinte, wissen wir bis heute nicht, aber es war die richtige Antwort.“ (lacht)
Héctor: „Momentan suchen wir noch einem Schlagzeuger. Aber über das Internet machen wir das bestimmt nicht nochmal. Auf solche Bandgesuche melden sich nur Verrückte. Und Julia.“
Mario: „Davor hatten sich nur Metal-Bands gemeldet, obwohl Héctor als Einflüsse Metronomy und St. Vincent angegeben hatte. Einmal meldete sich ein Mike aus Kirchheim, dem Stadtteil in Heidelberg, in dem Héctor wohnt. Wir dachten Mike ist der Verkäufer aus dem Edeka, aber er war es leider nicht. Mike hat Héctor ins Kirchheimer Stüble eingeladen, eine verrauchte Kneipe für Altrocker, in der man nur Bier bestellen kann. Er hat für Héctor extra Instantkaffee organisiert, weil er „auf einen Kaffee treffen“ wörtlich genommen hatte. Leider hat es musikalisch doch nicht gepasst.“
Héctor: (lacht) „Das ist jetzt fast neun Monate her. Kurz darauf hat sich Julia gemeldet. Zusammen haben wir fast 15 Songs geschrieben. Dafür, dass wir nicht immer zusammen proben können und uns nur einmal die Woche treffen, ist das ganz gut“
Mario: „Aber fertig sind die noch nicht alle. Vor allem müssen wir noch die Texte lernen.“
Julia: „Und wenn wir sie nicht lernen, ist auch nicht so schlimm. Songtexte in der Popmusik werden sowieso überbewertet. Wenn die Musik schlecht ist, helfen dir gute Texte auch nicht weiter.“
Héctor: „Die Texte hat Julia fast alle an einem Abend geschrieben. Sie schrieb mir auf Facebook, ob ihr die letzten Demos schicken kann. Eine halbe Stunde später bekam ich Textdokumente für drei Songs. Bis Mitternacht waren alle Texte fertig.“
Julia: „In dieser Band bin ich keine Songwriterin. Ich übersetze nur, was im Probenraum entsteht. Jeder singt irgendetwas vor sich hin, das klingt als wäre es Englisch. Ich übersetze es in Sätze, die grammatikalisch zumindest nicht komplett daneben sind.“
Héctor: „Einmal haben wir uns eine Songidee angehört, auf der wir dreistimmig gesungen haben. Jeder hat andere Worte verwendet, doch beim Anhören haben wir alle das Gleiche verstanden: Economy Island.“
Mario: (singt) It's you. You'll never be the best. (Héctor und Julia steigen ein) It's you, babe, slow down. It's you. You know you'll never find economy island.
Julia: „Das ist vielleicht unser bester Song. Kritik an der Leistungsgesellschaft.“
Héctor: „Tatsächlich. Bisher hat keiner von uns die Wirtschaftsinsel gefunden.“ (lacht)
Mario: „Temazo!“ (was so viel bedeutet wie „Hit“)

Ich begleite die Band in Marios altes Zimmer. In Deutschland ist Mario nicht bei jeder Probe dabei. Héctor und Julia studieren in Heidelberg. Mario wohnt im 60 km entfernten Darmstadt und muss noch einen Deutschkurs belegen, um sein Master in Deutschland machen zu dürfen. Umso mehr möchte die Band die Zeit in Spanien nutzen, um die Songs gemeinsam zu proben. Zwischen Fußballplakaten und Kinderfotos kramt Mario in einer Netto-Tüte voller Kabel, während Héctor seine Pedale in einen Rucksack räumt. Julia sortiert einen Stapel Songtexte. Die Band bereitet sich auf ihren ersten Auftritt vor. Sie spielen heute Abend in der Bar eines Freundes im nahegelegenen Oviedo.
Héctor: „Kennst du den Film Vicky Christina Barcelona von Woody Allen? Den haben Julia und ich gestern angeschaut. Ein Teil davon wurde in Avilés gedreht. Das ist die nächste große Stadt hier. Als gedreht wurde, war die ganze Stadt auf den Beinen, um die Stars zu sehen. Der Film spielt in Oviedo, in der Stadt in der wir heute spielen. Das Hotel, in dem die beiden Protagonistinnen wohnen, ist das einzige richtige Hotel in Oviedo. Woody Allen hat gesagt, falls er jemals in Rente gehen sollte, setzt er sich in Oviedo zur Ruhe. Er liebt diese Stadt. Die haben ihm sogar ein Denkmal gebaut.“
Mario nimmt die Nettotüte in seine rechte, einen kleinen Verstärker in seine linke Hand und macht sich samt Gitarre auf dem Rücken als erster auf dem Weg zum Auto.
Mario: „Wir müssen heute mit unseren alten Instrumenten spielen. Und ohne Mikrofone. Und ohne Schlagzeuger. Zumindest bekommen wir einen guten Bass ausgeliehen in der Bar.“
Julia quetscht sich zwischen zwei Gitarren auf die Rückbank und gibt einen Laut von sich, der bestätigt: Trotz ozeanischem Klima ist das Auto ziemlich warm.
Héctor: „Oh schön! Bandsauna.“
Eine knappe halbe Stunde fährt man von Las Vegas nach Oviedo.
Héctor: „Wir spielen heute im Café Paraiso. Paraiso – so heißt auch die Straße. Es ist die letzte Straße im Ausgehviertel. Dann kommt dort nicht mehr viel. Bevor Colino dort seine Bar vor drei Jahren eröffnet hat, war dort nichts. Es war die Pinkelstraße.“
Vorm Café Paraiso hilft Colino Héctor und Julia das Equipment zu tragen, während Mario nach einem Parkplatz sucht. Colino, der einen Bart im Gesicht trägt, von dem Männer der Hipster-Generation nur träumen, heißt eigentlich Jésus, wird von seinen Freunden aber nur beim Nachnamen gerufen. Er ist Bassist der Band Autotan und ein guter Freund von Héctor. Die beiden haben damals zusammen gewohnt und gemeinsam in einer Band gespielt.
Conlino: „Héctor! Que tal? Schön dich zu sehen. Das ist also deine neue Band. Was macht ihr für Musik?“
Héctor: „Wir sind eine Pop-Band. Aber falls du Werbung für uns machen willst, sag einfach wir sind voll 80er. Das kam bisher immer gut an.“
Colino tippt etwas in sein Smartphone und drückt seine Zigarette aus. Seine zweite, seitdem wir angekommen sind.
Colino: „Ok! Girls on Bikes! Ihr habt Euch die richtige Location ausgesucht.“ Er zwinkert.
Unschwer kann man im Café Paraiso Colinos Leidenschaft erkennen: Rennräder. Neben der Eingangstür am Fenster, das mit einer modernen Grafik versehen ist, stehen drei Fixies, an der italienischen Kaffeemaschine kleben Fotos von berühmten Rennradfahrern. Héctor zeigt auf ein Gesicht: „Das war ein berühmter Radfahrer aus der Region. Der ist an Drogen gestorben.“ Colino kippt den Aschenbecher in den Mülleimer und beginnt die Tische zu wischen, Mario entwirrt die Kabel aus der Netto-Tüte.
Colino: „Als ich die Bar eröffnet habe, hatte ich weder Ahnung von Kaffee, noch davon, wie man eine Bar führt. Das ist die spanische Mentalität. Wir planen das nicht so wie bei Euch in Deutschland. Man macht einfach mal und meistens geht es daneben. (lacht) – (zu Héctor) oh übrigens, wir können nicht mit Pablo aufnehmen. Der dreht gerade ein Video für seine Band Pablo und Destruktion und spielt dann noch auf einem Festival im Süden.“
Julia: „Ich dachte wir sind zum Aufnehmen hier her gekommen?“
Héctor: „Ja, so ist das. Kann man nichts machen.“
Colino: (zu Julia) „In Spanien sagt man: Es todo lo mismo. Es ist alles das Gleiche. Das solltest du dir merken!“
Vor der Bar bleiben zwei Mädchen stehen und suchen das Fenster nach den Öffnungszeiten ab.
Colino: „Kommt rein! Oder kommt später. Da spielt eine coole Band.“

Die Mädchen sollten wieder kommen. Als zwei von zwölf Gästen, um den ersten Gig von Girls on Bikes zu sehen. Am lautesten klatscht die Mutter von Héctor und Mario. Es ist unschwer zu erkennen, dass sie mit mindestens einem Mitglied der Band verwandt ist. Der erste Song ist Sofia (Never too far away). Er ist der besten Freundin von Julia gewidmet, die sie vor zwei Jahren in Island kennengelernt hat. Eine Österreicherin, die diesen Sommer in Wien ihr Schauspielstudium beginnt und die Band mit qualifizierten Kommentaren auf Facebook unterstützt. Man spürt die Anspannung des ersten Gigs. Mit alten Instrumenten. Ohne Mikrofone. Ohne Schlagzeuger. Blätter mit Textnotizen liegen auf dem Boden. Die Band hat sich in einer Ecke des Raumes zwischen zwei Lampen zusammengesetzt, von der nur eine angeschaltet ist. Mario singt mit geschlossenen Augen. „Der hätte lieber mit Sonnenbrille spielen sollen“, flüstert mir Colino zu „und Julia singt zu leise.“ Doch die Mehrstimmigkeit sitzt. Julia singt eine tiefe Frauenstimme, Héctor eine hohe Männerstimme. Mario singt eine Art Tenor der Popmusik. Man kann den Einfluss von Wild Beasts in seinem Gesang deutlich hören. Die Menschen klatschen. Die Band entspannt sich. Julia greift zur Akustikgitarre, Mario und Héctor tauschen Bass und E-Gitarre. I don't know what it is that you never find, what you're searching for. Auch wenn die Band sich gerne als „voll 80er!“ verkauft, erinnert das Intro und die Harmonien im Gesang eher an einen Song, der zwanzig Jahre zuvor in den 60es geschrieben wurde. Nach Now I feel, einem Song mit beachtlicher Kopfstimme im Refrain und The Hunter and the Hide, was die Band selbst nur „traurigen Song“ nennt, schließt Mario vier Pedale an seinen Bass an. Er macht laute Geräusche. Mit vielen Effekten. Héctors Gitarre setzt ein. Würde die Band nicht in einer kleinen Bar in Oviedo , sondern auf einem größeren Festival spielen, wäre das der richtige Einstieg. Atmosphäre – Atmosphäre – Mädchen mit Blumenkränzen in den Haaren schließen die Augen und werfen die Arme in die Luft. Die zweite Gitarre setzt ein, ein Dreinotenriff, die Masse jubelt. - Pause – Die Masse jubelt weiter. „It's you. You'll never be the best“ - „It's you, babe, slow down.“ - „It's you“ - „You know you'll never find -“ und die Masse brüllt: „Economy Island!“ Gitarrensolo. Mädchen mit Blumenkränzen in den Haaren schließen die Augen und werfen die Arme in die Luft.
„Nächstes Jahr bewerben wir uns als Newcomer Band beim Maifeld Derby. Vielleicht wird es dann genau so sein“, sagt Julia nach dem Gig.
Ein beleibter, älterer Herr kommt auf Héctor zu und wechselt ein paar Sätze auf Spanisch mit ihm, bevor er Richtung Tür geht und der gesamten Band nochmals zunickt. „Das war ein Schriftsteller aus Avilés“, sagt Héctor „er mag unsere Musik. Es erinnert ihn an irgendwelche Bands.“ - „Was für Bands?“ - „Keine Ahnung. Ich habe gesagt wir zählen sie zu unseren Einflüssen. Es todo lo mismo.“


Sonntag, 27. Juli 2014

Immer die alte Leier.

"Die Atmosphäre der Stadt, diesen leicht fauligen Geruch von Meer und Sumpf, den zu fliehen es ihn so sehr gedrängt hatte, - er atmete ihn jetzt in tiefen, zärtlich schmerzenden Zügen. War es möglich, dass er nicht gewußt, nicht bedacht hatte, wie sehr sein Herz an dem allen hing?"
(aus: Mann, Thomas: Der Tod in Venedig)

Es klopft an der Tür. Meine Mitbewohnerin bleibt im Türrahmen stehen. Irgendwo zwischen ausgebreiteten Zeitungen, Postkarten und Holzstiften sitze ich mit Kleber im Gesicht; neben mir mein Laptop, aus dem auf voller Lautstärke melancholische Musik erklingt.
"Wenn du Kaffee möchtest, komm in die Küche." Ich nicke ohne zugehört zu haben und streiche die vier Schichten Klebeband, die eine Fährenfahrkarte auf Karton fixieren sollen mit meinem Handrücken glatt.

Es ist angebracht sentimental zu werden, finde ich.
Auch wenn Abschiede für mich in den letzten Tagen an Bedeutung verloren haben. Zum vierten Mal diese Woche werde ich zum "letzten Bier" in ein Hostel dieser Stadt geladen. Heute Abend spielt dort eine funky Reggeaband. Neun Mann, Offbeat, Saxophonsolo. Ein Lied heißt "Tanzen". Warum der Sänger plötzlich "Wir wollen tanzen" mit verschobener Betonung adaptiert aus dem Isländischen ins Mikrofon brüllt, verstehe ich nicht ganz. Aber ja, wir wollen tanzen. Es werden Tische beiseite geschoben, aus dem Raum getragen und vor der Bühne finden sich ein paar vereinzelte Gestalten zusammen und steigen bei jeder zweiten und vierten Achtel von einem Bein aufs andere. Die Stimmung ist gut und sogar der Alkoholpegel, der Isländer üblicherweise erst zum Hüfte kreisen anregt,  ist heute erstaunlich niedrig.
Die Frau mit den dunkelgeschminkten Augen und den wasserstoffblond gefärbten Haaren nickt mir grüßend zu und lächelt. Sie ist jeden Donnerstagabend an der Bar und gab mir Bier aus als ich anstelle der funky Reggeaband vor zwei Monaten hier auf der Bühne stand.
Damals kam nach meinem Konzert ein amerikanischer Tourist auf mich zu und gab mir den Rat meines Lebens: "Kennst du den dicken Mann aus Hawaii, der auf der Ukulele 'somewhere over the rainbow' spielt? Den solltest du dir definitiv mal anhören!" Worte eines Musikexperten.
Als ich entgegnete: "Aber ich kann nur vier Akkorde, nur diesen einen Song auf der Ukulele spielen. Meine Freunde haben mir damals eine Ukulele geschenkt, weil ich zu viele traurige Songs spiele", sah mich der Amerikaner ganz bedrückt an, legte mir väterlich die Hand auf die Schulter, scheufzte und sagte: "Eben, Mädchen, du spielst zu viele traurige Songs."

Unterdessen stehe ich irgendwo zwischen isländischen Mädchen, die aussehen als seien sie aus einem Modemagazin ausgeschnitten, einer Mutter mit zwei kleinen tanzenden Knirpsen und zwei korpulenten Wikingern. Ich bin mir nicht ganz sicher wer, aber einer dieser Personen riecht markant nach Trockenfisch. Ich schiebe mich durch das Gedränge zurück an den Tisch, an dem das letzte Bier steht. Außer der Bekannten, die zum letzten Bier geladen hatte, kenne ich niemanden.
Im Laufe des Abends soll sich aber herausstellen, dass das nette schwedisch-isländische Mädchen und ihr englischer Freund Freunde des besten Freundes meiner Mitbewohnerin sind und dass mein ehemaliger spanischer Mitbewohner vergessen hat den Pyjama des englischen Freundes des netten schwedisch-isländischen Mädchen zurückzugeben.
Die Welt ist klein. Diese Insel auch. Und diese Stadt erst.

Ein Engländer, um dessen Nase sich eine ganze Menge Sommersprossen versammeln, zieht mich zur Bar und will mir ein Bier ausgeben. "Es ist Donnerstag, die Bar ist bereits geschlossen." - "Oh."
Alle drängen zu gehen, denn in der Bar zwei Straßen ist Happy Hour, eine fröhliche Stunde voll tanzender Menschen.
Die Bekannte drückt uns zum Abschied. "Falls du mal in Stuttgart bist, komm vorbei."
Abgang. Vorhang fällt.

Eine SMS, auf die ich nie eine Antwort erhielt, eine Umarmung, die länger dauerte als gewöhnlich und ein Buch, das mir in die Hand gedrückt wurde mit den Worten: "Das musst du mir persönlich zurückgeben. Wir werden uns wiedersehen." 1, 2, 3 Menschen aus dem Umfeld gestrichen. Abschied am Fließband, Produktion von Wasser in der Tränendrüse.
Und so sitze ich mit Kleber im Gesicht zwischen ausgebreiteten Zeitungen, Postkarten und Holzstiften und streiche vier Schichten Klebeband, die eine Fährenfahrkarte auf Karton fixieren sollen mit meinem Handrücken glatt. Denn es ist an der Zeit auszumisten: Klamotten, Papiere und Emotionen.
Ich schütte den Inhalt meiner ziemlich hässlichen rosa-orangenen Kiste auf den Boden. Hier glaubt jemand an das Aufbewahren von Erinnerungen in Form von Zetteln, Heftchen und Briefen. Eintrittskarten vom Zirkus, mein altes Busticket und isländische Einkaufszettel werden mit dem sanften Geruch nach Lösungsmittel in mein Islandbuch geklebt. "Happy Birthday, Julia", "Frohe Weihnachten", "liebe Grüße aus der Toskana".

Am Ende ist das Buch so dick, das ich es nicht mal mehr zuklappen kann. Ich reiße die unbeschriebenen Seiten raus. Besser.

....


Ich habe neulich gelesen, dass Entscheidungen von dem Teil des Gehirns beeinflusst werden, der für Emotionen zuständig ist. Entscheidungen sind nur bis zu einem bestimmten Grad "rational". Gezeigt hat dies ein gewisser Elliot, dem 1982 ein Tumor aus seinem Gehirn entfernt wurde. Seine Intelligenz litt nicht unter den Folgen der Operation, aber Elliot war nicht mehr in der Lage irgendeine Entscheidung zu treffen: Allein die Wahl des Radiosenders dauerte für ihn Stunden. Was der Neurologe Antonio Damasio feststellte, war, dass Elliot nicht mehr in der Lage war Emotionen zu fühlen. Er litt durch die Folgen seines Tumors an völliger Gleichgültigkeit. Interessanterweise beeinflusste der Verlust zu Fühlen jegliche Entscheidungsfähigkeit. Gefühl-und Entscheidungslos war Elliot alltagsunfähig geworden.

"Diesen Jogurt hat Oma auch immer gekauft. Und Oma weiß schließlich was gut schmeckt." "Emmentaler... hm... in Tirol war ich schon mal, 100g Tiroler Bergkäse, bitte!"
Dass diese Entscheidungen nicht wirkliche logische Schlussfolgerungen darstellen, sondern eher eine nostalgische Lüge oder vorgespielte Vernunft sind, spielt für uns keine Rolle: Oma steht für Qualität. Und was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht.
Begrenzte Rationalität wird dies genannt.
Wir leben in ständiger Repetition. Schlussstrich mit zwei Punkten. Beginne bei Takt 1.
Unser Gehirn geht gegangene Wege nochmals. Und nochmals.
"Eine Kugel Vanilleeis bitte. Das nehme ich immer."
Die gleichen Fehler begehen wir und öfters als man es sich eingestehen will wählt man den Beruf der Eltern. Aus Gewohnheit. Weil wir immer und immer wieder Strom über dieselben Synapsen leiten.

...

Ich sitze mit einer Tasse fürchterlichem Kaffee, der nur durch die gleiche Menge Milch genießbar ist mit meiner Mitbewohnerin in der Küche. "Ich glaube jetzt ist wohl die beste Zeit um Entscheidungen zu treffen", sage ich.
Durch den geballten sentimentalen Emotionsfluss sagen zu dürfen rational entschieden zu haben mit der Erlaubnis das Gleiche, immer das Gleiche tun.
Meine Mitbewohnerin ist 28 und sucht nach einem Job, muss sich entscheiden, wo sie jetzt eigentlich leben will. Ich renne in mein Zimmer, hole mein Islandbuch hervor und rufe ihr zu: "Lass uns tanzen."
Und wenn mich jemand fragt, was ich denn jetzt vorhabe im Leben, antworte ich: Eine Träne im Knopfloch vergießen, dabei die Vergangenheit zelebrieren, auch wenn ich oft gemault habe, so wie ich das immer mache und dann,... ja, richtig, ich muss noch eine Wohnung finden.
Eine mit hohen Decken und Altbauflair. Weil das zu Hause auch so war.

Die hässliche rosa-organene Kiste ist jetzt leer, das Islandbuch vollgeklebt.
Doch ich lese das hier nochmals durch und ersetze gedanklich "Reykjavik" durch "Heidelberg".






Samstag, 21. Juni 2014

Luft! Luft! Mir erstickt das Herz!

Bis ins 18. Jahrhundert war es in Frankreich verboten den "Kuhreihen", ein Hirtenlied, zu singen oder gar nur zu pfeifen, da Schweizer Söldner beim Vernehmen dieser Klänge anscheinend massenhaft erkrankt oder desertiert seien. 
Der Begriff "Heimweh" war zunächst ein medizinischer und tauchte erstmals im 17. Jahrhundert in der Schweiz auf. 
Das, woran die Soldaten in Frankreich litten und woran sie teils verendeten, wurde als "Nostalgia" erstmals 1688 vom Arzt Johannes Hofer in Basel als Krankheit beschrieben und ist noch heute unter der "Schweizer Krankheit" bekannt. 

Gestern habe ich Versicherungspapiere ausgefüllt:
"Beschreibung der Behandlung: neue Brille [...] Grund der Behandlung: ..." Ich setzte meinen Stift an und überlegte. "ich sehe nichts." vielleicht; oder "Europa zahlt dafür". Ich entschied mich für "mit der Zeit gehen". Denn als junge, moderne Frau ist es für mich unabdingbar mir ein neues Brillengestell zuzulegen. Ich trug meine Kontonummer in die letzte Spalte ein und unterzeichnte, dass diese Angaben korrekt seien. 

Beschreibung der Behandlung: "Schweizer Krankheit", Grund der Behandlung: "Luftveränderung", so wie es Johannes Hofer im 17. Jahrhundert deutete.
Sicherlich, die klimatischen Bedingungen hier sind andere. "Hallo Mama, ich habe einen Sonnenbrand auf der Nase. Das ist der heißeste Tag im Jahr, 14°C! Nahezu tropisch!", schrieb ich letzte Woche. Als Antwort erhielt ich: "Schmier Quark drauf. Kuss, Mama" und dazu einen Link zur Wettervorhersage in Stuttgart. 38°C. 
Hofers "Luftveränderung" muss sicherlich auf einer anderen Ebene betrachtet werden. Einer atmosphärischen womöglich.
Denn meine Versicherung wird mir meine Hofer'ischen Papiere wahrscheinlich mit dem Stempel "aus der Luft gegriffen" wieder dorthin zurücksenden, wo sie hergekommen sind. Nach Island, bewölkt, 14°C.


Die Problematik "Luftveränderung" ist eine internationale. Das, was im Deutschen, "in der Luft liegt", funktioniert Wort für Wort auch im Isländischen: "Það liggur eitthvað í loftinu", wird im Englischen aber ein Seinszustand "There is something in the air", während im Polnischen Dinge in der Luft "hängen", so wie der Nebel über einer Stadt ("coś wisi w powietrzu", bzw. "nad miastem wisi mgła").
Der emotionale Aspekt wird in allen genannten Beispielen mit einer meteorologische Ebene verknüpft, sodass die Stimmung einer Voraussicht allumfassend beschrieben werden kann.
Wenn der Volksmund dann sagt "du kannst nicht nur von Luft und Liebe leben", unterschreibt er vielleicht auch ein Versicherungspapier und gibt Hofer recht, dem zufolge Menschen sogar an der Luft, die sie atmen, sterben, einsam und melancholisch.



Betrachten wir den Befall von Heimweh also als Änderung der Luftzusammensetzung, Veränderung der Atmosphäre, haben wir es sowohl mit einem chemischen, als auch mit einem emotionalen Problem zu tun. 

In meinen grauen, winterlichen Tagen hier, in denen die Luft Minusgrade betrug, habe ich mir oft verboten mein Hirtenlied zu singen. Ich sagte mir: Auch Reykjavik ist eine Stadt, in der ich als Stadtkind leben kann, auch hier gibt es Menschen, mit denen man als soziales Wesen Konversation führen kann, auch hier gibt es Dinge zu tun und zu essen, Kunst zum Ansehen und Bücher zum Lesen, Musik zum Anhören und Konzerte zum Hingehen. Meine Bedürfnisse sollten gestillt sein, warum diese Trägheit?


Viele Menschen verlieben sich in Island und sagen dann, dass die Natur sie beflügelt, die Menschen so offen wären und das Leben hier ganz wundervoll sei. Ich höre mir diese Geschichten gerne an, aber nur bis zu dem Punkt, an dem ich weiß, woher die Menschen kommen. Denn Islands Landschaft mag schön sein, doch "Schönheit" ist kein feststehender Begriff, sondern eine philosophische Fragestellung. Der Wald vor meiner Haustür war schön, ebenso der Urlaub in Spanien und sogar den Korntaler Acker kann man im Sommer schön nennen. 
Seitdem "Mut zur Hässlichkeit" sich in Ästhetik und Kunst etabliert hat, herrscht ohnehin Anarchie in der Begrifflichkeit des Schönen.
Orte mögen im Sinne der allgemein gültigen Ästhetik sicherlich von der Mehrheit der Menschen als "schön" empfunden werden, doch was sie für uns besonders macht, ist nicht die Wahrnehmung selbst. "Schöne" Orte findet man überall. 
Ein Lied, ein Ort, eine Zeit gewinnt dann erst an Bedeutung und geht über die reine Wahrnehmungsebene hinaus, wenn wir die Luft, die wir um sie herum atmen, miteinbeziehen.
Die Zusammensetzung, die die Chemie zwischen Menschen stimmen lässt; die Luft, die meine Lunge rein macht und meinen Kopf mit Sauer- und Süßstoff füllt.

Hier habe ich oft über den Begriff der "Heimat" nachgedacht, nach der man sich im Ausland anscheinend manchmal sehnt. 
Einerseits, weil ich zwei Sprachen verstehe, doch nur eine meine Muttersprache nenne und hier aber in der größten Minderheit des Landes eine Mentalität sehe, die ich besser zu verstehen glaube  als Menschen, die keinen Bezug zu diesem Land haben. 
Anderseits, weil ich als Deutsche am Tag der deutschen Einheit niemals einen Kuchen mit Nationalfarben gegessen habe, während ich meine Kindergartenkinder hier am 17. Juni Fahnen- und zuckerwatteschwenkend durch den Regen der Hauptstraße ziehen sah.

Eines Tages, an dem ich mich als einen Patientin Hofers verstand, endete mein Versuch durch die Stadt zu schlendern in Tränen und Erinnerungen an all die Orte, die zu Hause so viel besser waren. 
Die Kneipe, in der man immer saß, die Brezel, die man immer aß, den Wald, in dem man spazieren ging. 
Jetzt, da sich im Sommer die Zusammensetzung des Windes verändert hat, weiß ich, dass nur etwas in der Luft lag. nostalgische Phantasien, die Sehnsucht nach Etwas, was ich zu vermissen glaube, dessen eigentlicher Kern aber nur das Abhanden sein einer bestimmten Emotion zugrunde liegt.

Wenn ich in anderthalb Monaten wieder "zu Hause" bin, werde ich sicherlich auch flache Pfannkuchenbrote, kostenloses Wasser und furchtbare Mayonaisensandwiche von der Tankstelle vermissen, weil ich das Fehlen einer Emotion in Momenten auf Dinge, die ich in Island besitze und in Deutschland nicht, übertragen werde und weil vor allem der deutschsprachige Raum an "Nostalgia" leidet.
Zum Glück kann man hier vorsorgen. Im Touristenshop gibt es Gläser mit Isländischer Luft für ca. sechs Euro.
Beschreibung der Behandlung: "homöopathisches Mittel gegen Luftveränderung" Grund der Behandlung: "Vorsorge gegen Schweizer Krankheit". 













Donnerstag, 5. Juni 2014

Kritik der reinen Vernunft / Vernunft der reinen Kritik

Ein Glück, dass jeder Tag ein "Welttag" ist.

Zum Frühstück gratulierte mir meine Mitbewohnerin zum Weltkindertag.
Schließlich sei ich ja das Kind der WG, sagt sie. Ich biss in mein Brot und stimmte ihr nickend zu.
Höchst modern ist meine neue WG nämlich angelegt: Zusammen in dieser Wohnung, die zugestellt ist mit antikem Krempel, kitschigen Gemälden und urigen Möbeln, aus denen nachts Zeitgeister fliegen, wohnen mein isländischer Vermieter, 40, schwul, Geschichtslehrer, der ständig eine gewissen Art von Witzen reißt, denen meine deutsche politische Korrektheit nicht mehr als müdes, höfliches Lächeln schenken kann; meine polnische Mitbewohnerin, 28, die sich selbst als Emigrant/Immigrant bezeichnet und eine Exceltabelle mit den Adressen ihrer alten Behausungen, erste Spalte beginnend mit "Country"führt und ich, Julia, 19, Kind der WG.

Doch nicht nur der Weltkindertag findet am 1.Juni statt. Heute feiert Kunibert seinen Namens-, meine Arbeitskollegin ihren Geburts-, Albert Schweitzer seinen ganz persönlichen und wir alle den Weltmilchtag.
Doch während wir gedankenlos in unseren weltlichen Tagen schwelgen und immerzu Gründe zum Feiern finden, äußern 2,1 Millionen Österreicher Kritik an der Benennung letzteren Festes.
Man solle doch bitte den 1. Juni zum "Weltpflanzenmilchtag" umbenennen, fordern sie.

Ohne die große Bedeutung des Weltmilchtages herunterspielen zu wollen, muss ich doch sagen, dass ich bezweifle, dass besagte Umbenennung in die Geschichtsbücher der nächsten Generation geschrieben werden wird.
Aber nein, darum geht es überhaupt nicht, ich weiß doch. Das ist nur ein kleines Puzzlestück im Gesamtsystem aus über einer Millionen Teile. Hier geht es um Ideale und Prinzipien, um höhere Systeme und komplexe Zusammenhänge.
So sarkastisch ich nun klingen mag, ich verstehe die 2,1 Millionen Österreicher. Meine vegane Phase endete zwar spätestens diesen Freitag als ich 1,5 Kilo Hack für mein WG-Einweihnungsessen in meinen Jutebeutel packte, doch das Beobachten einer Gruppierung, ja, einer Szene und das Nachvollziehen ihrer selbstbezogenen, doch global formulierten Forderungen macht als Unbeteiligter noch viel mehr Spaß.
Spuckt man erst einmal schwarze Milch an die Wand, beginnt bald der Idealismus Früchte zu tragen. Darf der alte Ledergürtel vom Flohmarkt überhaupt noch angezogen werden, sollte man aus Protest nicht verweigern den Kindern im Kindergarten Kakao einzuschenken und wer ist der Veganbeichtvater, dem man gestehen kann, dass man nicht wusste, dass die verzehrten Sojawürste nur laktovegetarisch waren?
Mit dem Eintauchen in solch einen Mikrokosmos klebt man plötzlich fest auf einem Pixel des Gesamtbildes, A0, 841x1189 und empfindet das Werk als einfache Reaktion des eigenen Standpunktes. In diesem Beispiel steht der "Weltmilchtag" nur für einen weiteren Versuch der Manipulation der Masse, die dadurch vom Weg der Erleuchtung durch die Prozesse der Fotosynthese abkommen. Das dem entgegenzuwirken ist, steht außer Frage. Ob man dabei lächerlich wirken könnte, wird belanglos, da man doch für die Sache kämpft.

Meine "vegane Phase" ist tatsächlich wörtlich zu nehmen und hielt über mehrere Monate an. Doch war mein Idealismus nicht stark genug, um Einladungen zum Essen abzusagen. In meinem Kopf verglich ich das mit dem Fastenbrechen an Sonn- und Feiertagen.
Einmal gab es sogar Fleisch. Oh weh. Ich rutschte in schwachen Momenten nicht nur vom Veganismus in den Vegetarismus zurück, nein, ich war nur noch ein schäbiger Flexitarier. Durfte ich überhaupt noch sagen: "Momentan ernähre ich mich vegan?" Eigentlich nicht. Und wenn ich mir manchmal Artikel auf veganen Seiten im Internet durchlese, hätte ich eigentlich schon längst "zu den anderen Asfressern" verdammt werden müssen.
Ich wünsche mir deutsche DIN- Formen. Denn was bedeutet das schon zu sagen "ich bin Veganer" / "Momentan ernähre ich mich vegan."? Wie lange muss ich verzichtet haben? Wie werden meine Aussetzer im Gesamtresümee gewertet? Und dürften nicht - streng genommen - nur Vegangeborene das Wort für sich beanspruchen? Vielleicht betrachte man es mal von der anderen Seite: Jetzt momentan bin ich auch ein Veganer, denn im Moment esse ich nicht. Und meine Luft zum Atmen ist schließlich nicht tierisch.
Vielleicht ist das das Schöne am Idealismus. Wörter in den Raum zu stellen, von denen jeder eine Vorstellung hat, die aber doch fast immer eine Utopie bleiben.

Ursprünglich war meine Intention nicht gewesen in diesem Eintrag eine Diskussion über Veganismus zu führen, doch die eigentliche Reflektion, die ich niederschreiben wollte, ist relativ eng mit besagter Thematik verbunden.
In meiner alten WG wurde Dumpster Diving (also im Müll nach Essen wühlen) plötzlich zum Sport. Ausgehend von unserem spanischem Mitbewohner mutierte unsere Küche manchmal zu so etwas wie einem Selbstbedienungsladen. Erst gestern bekam ich mit Grüßen von der alten Behausung eine Art alternativen Obstkorb, also einen Pappkarton mit Bananen, Brokkoli und Keksen aus dem Container geschenkt.
Ob Müllesser nun "Aussteiger" aus der Gesellschaft sind oder sich am Ende der Nahrungskette nur vom System abhängig machen, sei mal außen vor gelassen.
Lieber eine kleine Anekdote:
Eines schönen Sommertages gab es am Hafen Reykjaviks eine Aktion, um auf unsere Wegwerfgesellschaft aufmerksam zu machen. Es wurde im "Ruslraunt" (rusl [rüstl] = isländisch "Müll") gratis Essen aus ausschließlich gedumpsterten Zutaten verteilt. Die ganze Meute fand sich also zusammen und positiv gesinnt sagte mein ehemaliger Mitbewohner: "Oh, das schmeckt überraschend gut." Die Menschen, die schon ganz tief in die Container gegriffen hatten, ergriffen nun das Wort und ihre Gabeln und hielten eine Predigt darüber wie man denn "überrascht" davon sein könnte. Das sei doch containert, also natürlich gut! Und überhaupt zu wagen dies anzuzweifeln. Pff.
Nun gut. Menschen in ihrem Idealismus zu kitzeln ist das eine. Das andere ist aber, dass es nun einmal nicht selbstverständlich ist, dass Müll gut schmeckt, selbst wenn die Produkte das Haltbarkeitsdatum noch nicht überschritten und Bananen eine feste Schale haben und das alles nur ein Sinnbild für unseren Verschwenderwahnsinn ist - nein, es ist nicht selbstverständlich.
Vom schlechten Gewissen geplagt, wollte ich auch niemals jemandem sagen, wie gut mir besagtes Fleisch in meiner stoischen Zeit eigentlich schmeckte. Denn - verdammt - man kann viel darüber reden die Welt zu retten, doch das Argument des Genusses kann nun mal nicht widerlegt werden.

Was ich sagen möchte ist nicht, dass wir aufhören sollten in unseren Kreisen auf Verschwendung, Weitsicht und bewusstes Handeln aufmerksam zu machen. Ganz im Gegenteil! Aber vielleichte sollten wir uns von dem Gedanken verabschieden, dass wir die eigentlichen Weltretter sind. Denn die eine schimmlige Paprika, die aus dem Müll geholt wird und Menschen in unserer WG Magenschmerzen bereitet, hilft dem Welthunger nun mal leider auch nicht.
Keiner von uns wird der Müllguru oder der Veganerleuchtete und kann sich dadurch das Recht nehmen sich über andere zu stellen und ihr Verhalten zu verurteilen.

Und allen voran möchte ich Menschen bitten ihre Argumentationsreihen nochmals zu überdenken. Im Süddeutsche Magazin gibt es die "Gewissensfragen", so wie das Zeit Magazin die Sparte "Die großen Fragen der Liebe" führt.
Manchmal, wenn es mir zu viel wird mit den Diskussionen über Brandrodung, Welthunger und das perfekte System, frage ich mich auch, ob Michael jetzt andere Frauen anlächeln darf und ob Brigitte ihrer Yogalehrerin sagen soll, dass die Urlaubsvertretung den Kurs besser geleitet hat. Dann freue ich mich noch auf dem Boden geblieben zu sein. Leider begehe ich jedes Mal den Fehler die Kommentare unter diesen Diskussionen zu lesen. Ca. 52% des Wortgefechts besteht nämlich aus einem einzigen Wort: "Erste Weltprobleme". Dieses Wort schreit. Nach dir, deiner Meinung und deinem Engagement.
In diesen Momenten klappe ich meinen Laptop zu, werde mir meiner Nichtigkeit in der Welt bewusst und ertrinke kurz in Weltschmerz oder wie Heine sagen würde "in dem Schmerz über die Vergänglichkeit irdischer Herrlichkeit."
Ich bin ganz froh am Ende meiner kleinen Lebenswehmut doch festzustellen, dass die Antwort auf eine gestellte Frage leider nicht mit ihrer Kategorisierung gefunden ist.
Wenn wir auf die Erste Welt Probleme schimpfen - also auf die unsrigen - machen wir uns es sehr einfach. Wir lenken von ihnen ab, auf Probleme -  große! globale! -  auf die wir weder jetzt, noch morgen - im Gesamtsystem aus über einer Millionen Teile - eine Antwort finden werden. Im Endeffekt müssen wir gar nichts mehr beantworten. Wundervoll.

Ein Glück, dass jeder Tag ein Welttag ist.
Einer, mit Problemen aus der Ersten. Und mit Schmerz aus der ganzen.





Samstag, 3. Mai 2014

Von Steckenpferden und Stockfischen

Irgendwann letzten Sommer hatte ich auf einem Flohmarkt ein Buch mit dem Titel "Lexikon der aussterbenden Wörter" erstanden mit dem festen Vorsatz diese Worte in meinen aktiven Sprachgebrauch einfließen zu lassen. Geblieben sind lediglich die Worte "Aküfi" (Abkürzungsfimmel), "Backfisch" (junges Mädchen) und "Krawallbrause" (Bier) und einige wundervolle Stunden geheimer Lektüre im Deutschunterricht.

Neulich wurde ich über die Herkunft des Wortes "Hobby" aufgeklärt. Das ursprüngliche Wort "hobby-horse" bezeichnete zunächst ein Pony, sowie auch ein Spielzeug, das deutsche "Steckenpferd", was bereits im frühen 16. Jahrhundert gebräuchlich war. Das "Steckenpferd" übernahm schließlich die Zweitbedeutung "Lieblingsbeschäftigung" 1763 durch die Romanübersetzung des "Tristam Shandy" und wird als Synonym für das eingedeutschte "Hobby" verwendet.
Das "Hobby", bzw. das "Steckenpferd" ist eine Beschäftigung, die dem Ausgleich der täglichen Arbeit dient und mit "einem gewissen Eifer [betrieben wird]" (Vgl. Duden).

Nun ja.
Ponys sind nicht meine Steckenpferde. Der Versuch ein Islandpferd zu reiten war womöglich ein wenig zu viel des "gewissen Eifers" und endete für mich mit einer leichten Gehirnerschütterung.
Und von Ausgeglichenheit möchte ich erst überhaupt nicht anfangen.
Die Frage "Was machst du in deiner Freizeit?" ist mir unangenehm geworden. Zu Schulzeiten war ich es gewohnt eine Liste an Dingen aufzuzählen. Da wusste man, wer man war, wo man dazugehörte, wie man sich zu verhalten hatte, denn die Steckenpferde geben eine Laufrichtung vor, der zu einem bestimmten Grad gefolgt wird, wenn man sich dafür entscheidet sich in den Sattel zu setzen. Ich reite nur noch selten auf meinen Steckenpferden. Laufrichtung "Musikerin", "Öko" oder "Organisatorin von Dingen" funktionieren nur noch teils oder überhaupt nicht mehr.
In anderen Quellen heißt es "Hobbys" repräsentieren einen Teil der Identität. Das heißt... Oh je, mine! Existiere ich nun überhaupt noch? Kann ich noch wahrgenommen werden in der Generation XY?

Mein Freiwilligendienst setzt auf informale Lernkenntnisse. Eine ganze Menge junger Erwachsene werden inspiriert, finden sich selbst und verbreiten spirituelle Liebe.
Zu Beginn bin ich auf dieser Welle mitgeschwommen: "Spürst du sie auch, die Energie?"
Mittlerweile muss ich mich dafür rechtfertigen nicht alles "amazing" zu finden. Ich nenne es Anspruch, die anderen Pessimismus.
Eine Mitfreiwillige hat eines regnerischen Islandtages zu mir gesagt: "Du bist vielleicht zu normal für diese Gruppe." Auch das noch! In Zeiten der Selbstdarstellung!
In was bin ich hier hineingeraten? Julia - die Durchschnittsbürgerin. Eine von den Deutschen hier, eine von den Jüngsten hier, eine von diesen, die manchmal Dinge blöd findet und eine, die nicht mal einer Richtung angehört.
Ich brauche schnell einen Marketingberater! Das lässt sich doch bestimmt noch alles geradebiegen.
Ich schreibe ein Buch "Das Durchschnittsleben", halte Lesungen mit dem Titel "zufriedenes Nichtwahrgenommenwerden in Zeiten moderner Medien" und täusche vor das alles wäre von Relevanz und ich Vorreiter einer Herde Steckenpferde.

"Think out of the box!" schreien die inspirierten Freiwilligen und "no borders, no nations", während mir bei einem Internationalen Dinner vorgehalten wird "eine, von diesen zu sein". Vor lauter Engstirnigkeit im Tunnelblick gefangen, sag mal, ist das die Sonne am Horizont?


...


"Take it out of the box!" sage ich und suche irgendeine Ordnung zwischen Umzugskartons, Müdigkeit und diesem sogenannten "Besitz", den ich mir hier in acht Monaten angesammelt habe.
Ich krame zwischen Kochbüchern, Strumpfhosen und Briefen von zu Hause und finde tatsächlich: Ein Steckenpferd!
"Umzüge sind doch unser Hobby", scherzt meine (ehemalige) Mitbewohnerin, während ich etwas verzweifelt meinen elften Kaffee trinke und die Stauballergie auf meinen Händen betrachte.
Die dritte Wohnung in der zweiten Stadt in acht Monaten.
"Ein Glück, dass ich nur noch zwei Mal umziehen werde dieses Jahr", sage ich und lege mich auf den Fußboden unserer leeren Wohnung, in der es fürchterlich zieht, da die Türen ausgehängt wurden.
Bereits zum Frühstück waren die Handwerker gekommen. "Wir nehmen jetzt alles mit. Auch diesen Stuhl, steh bitte auf."

Es war nie mein zu Hause gewesen in der Wohnung über meinem Kindergarten, in der ich die letzten vier Monate mit meiner Arbeitskollegin/Mitbewohnerin/Gastmama verbracht habe, aber es hat sich so angefühlt. Außer das, was jetzt in Kisten vor uns stand, hatten wir nichts hier besessen. Die Wohnung war Eigentum eines Jemanden aus den Niederlanden, die Möbel zur Verfügung gestellt von... ja, von wem eigentlich? und selbst der Krempel in der Abstellkammer wurde an diesem Morgen noch von meinem Chef abgeholt.
Bis um zwei Uhr nachts schrubbten wir und sortierten Müll aus. Als die Wohnung dann verlassen und nach Ajax roch, stellte ich fest, dass sie leer zum einen sehr groß und zum anderen sehr traurig erschien.
Nach vier Stunden Schlaf auf dem Fußboden der ausgeräumten Wohnung strich ich schließlich die Temperaturangabe "geeignet bis zu -3°C" auf meinem Schlafsack durch und schrieb daneben "aber trotzdem verdammt ungemütlich".

In meinem neuen Zuhause gibt es Berge als Ausblick vor dem Fenster, eine Badewanne anstatt der Fehlkonstruktion von Dusche in der alten Wohnung, deren Abfluss einzig zum Überfluten des Küchenbodens diente, eine Spülmaschine und die größte Plattensammlung Islands.
Mein Zimmer gehörte einer 29jährigen Freiwilligen, die zurück nach Hause wollte.
Irgendwie musste ich schmunzeln. Eben diese hatte mir erzählt, dass dieses "normale Wege gehen" nichts für sie sei. "Geregeltes Leben war nie was für mich. Immer was neues ausprobieren, sehen was der Tag so bringt." Denn: So ist das in dieser Zeit. Du bist ein unspontaner Spießer, wenn du einen Terminkalender hast und dir To Do Listen schreibst, um Ordnung in deinem Lebenssystem zu halten.

"sehen was der Tag so bringt...." murmelte ich zu mir selbst, während ich meine Teesorten nach Farbe sortierte. "Hoffentlich Kaffee..."
Ich fand eine Instantsuppe zwischen Tomatenkonserven und Cornflakes in der Kiste mit der Aufschrift "Küche" und freute mich heute Pulver für mich zu kochen. Ich zertrat den Umzugskarton und merkte, dass ich das System heute auch nicht ändern würde, denn dazu war ich zu müde.
Und obendrein noch ein Spießer! Julia - die Durchschnittsbürgerin, die nicht abstritt, dass geregeltes Leben des Öfteren eine gute Sache ist, die sich lieber vom Tag holte, was sie wollte, als zu sehen, was er brachte und die sich freute zumindest für die nächsten vier Monate zu wissen, dass es vorerst nicht mehr notwenig sein würde den Schlafsack auszupacken.
Ich stopfte den Umzugskarton in die überfüllte Recyclingtonne und freute mich, dass es in der Schublade, in die ich hineingeraten war, eine Spülmaschine und eine Badewanne gab.







Donnerstag, 3. April 2014

Suppengeschichten.

"Einmal wollte ein Kind seine Suppe nicht essen. Die Mutter hat gesagt: 'Ich will dich füttern." Das Kind hat gesagt: 'Die Suppe ist viel zu heiß!' Die Mutter hat in der Suppe gerührt. Jetzt war die Suppe gar nicht mehr heiß. Aber das Kind hat den Kopf zur Seite gedreht und es hat gesagt: 'Ich habe keinen Hunger. Ich will nicht essen. Ich will spielen.' Da hat die Mutter dem Kind eine Suppengeschichte erzählt." (Wölfel, Ursula: Siebenundzwanzig Suppengeschichten)

Dienstags sind Suppentage im Kindergarten. Um genau zu sein: Suppen- und Brottage. Heute hat Jón seine Suppe nicht gegessen. Er wollte nur Brot. "Nur zwei Löffel, dann bekommst du Brot." "NEI!" Platsch Platsch. Ich bezweifle, dass Jón mit seinen ungelenken Bewegungen versucht hat die Suppe in seinen Mund zu befördern. 
Vielleicht hätte ich ihm auch eine Geschichte erzählen sollen. 
'Die Geschichte von dem Mädchen, das immer maulte, bis es bekam was es wollte.' vielleicht?

Es war einmal...

Ja, ich habe mich viel beschwert: Von Dunkelheit bis Langeweile. 
Island ist so kalt. Island ist so windig. Reykjavik ist so klein. Das Leben hier so eintönig. Die Menschen alle nicht auf meiner Wellenlänge. Das Essen so stinkig und die Musikszene enttäuschend. 

Ich rate dir, Jón: Beschwere dich nicht zu sehr, am Ende bekommst du noch, was du möchtest! Und du weißt: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein!

So kam es, dass ich mir Abenteuer wünschte.

Vor zwei Wochen hat mich meine liebe Freundin Philippa hier besucht. Meine Warnung "Du kannst nicht alles planen, wenn du nach Island kommst", wurde durch die Freude am neuen Reiseführer und deutschem Ordnungsoptimismus ein wenig ignoriert... bis zum Tag der Ankunft.
Mit Philippa kam nämlich auch ein erneuter Schneeausbruch. Mit dem Winter kamen die Straßensperrungen und die Gültigkeit des Winterbusfahrplan (oder sollte ich besser sagen Busnichtfahrplans?) 
Zudem sollte bald der Vulkan Hekla ausbrechen, sodass sämtliche geplanten Wanderungen auf diesem Teil der Insel auch von der Liste gestrichen werden konnten.
Das einzige, das den Anschein erweckte, dass irgendetwas doch nach Plan verlaufen könnte, war unser Ausflug in den Norden. Die Wettervorhersage schien in Ordnung zu sein (jede deutsche Behörde hätte längst alle Menschen evakuiert, der Strom wäre ausgefallen, die Deutsche Bahn entgleist und man hätte in Erwägung gezogen das Militär mit Schneeschaufeln in die betroffenen Gebiete zu senden...), unsere Taschen waren gepackt und eine Mitfahrgelegenheit gefunden.
Mit dieser sollten wir noch eine ganze Weile zu tun haben.

Nachdem der stämmige Isländer mit seinem doch etwas klapprigen Auto zwei Stunden zu spät vor unserer Tür stand und sich mit "Ich hatte noch zu tun" entschuldigte, wusste ich bald, dass sich das ganze als doch nicht allzu gemütlich gestalten sollte. Dazu lag zuviel Krempel neben mir auf dem Sitz. Bereits in enormen Verzug hielt der Herr dann plötzlich ohne irgendeine Vorwarnung in einem Wohngebiet um "eine Tasche" zu holen und kam nach zwanzig Minuten mit einem Computermonitor und drei Tüten Trockenfisch zurück, die den Rest der Fahrt meine wohlriechenden Gesellen sein sollten.
390 km, also ca. fünf Stunden fährt man (normalerweise!) von Reykjavik nach Akureyri.
Diese Rechnung ging diesmal nicht ganz auf. Aber so ist das nun mal im Leben, Stuttgarter Bahnhöfe, Berliner Flughäfen oder eben isländische Reisen. Es kann schon mal passieren, dass sich Kosten oder Zeiten verdoppeln oder vervierfachen.
In unserem Fall kamen eine Autobergung durch ein anderes Fahrzeug mit einem Seil, eine kaputte Heckscheibenheizung und ein wenig Schnee dazwischen, sodass unsere reine Fahrtzeit zehn Stunden betrug.
Um drei Uhr nachts schließlich nahm unser kleiner Ausflug mit dem letzen Aufheulen des Motors vorerst ein Ende. Vor uns: Zwei gestrandete Fahrzeuge, hinter uns: ein hupender Großtransporter, der sich dann aber doch mühelos an uns vorbeischlängeln konnte. Nichts kann die nächste Fischlieferung an BONUS aufhalten. Das bisschen Wind und Eis erst recht nicht.
"Tut mir leid, die Heizung funktioniert nicht", sagte der Fahrer noch, bevor er uns feierlich eröffnete, dass wir nur noch vier Stunden bis zur nächsten Schneeräumung warten müssten.
Nie wieder wünsche ich mir Abenteuer, dachte ich mir und legte meinen Kopf auf eine Tüte Trockenfisch.
Doch was sind schon vier Stunden, wenn man sich die Situation im Osten mal vor Augen hielt. Dort hätte es auch passieren können, dass wir eine ganze Woche im Auto hätten verharren müssen. Momentan kann dort nur einmal die Woche Schnee geschoben werden, da sich sonst Schneeberge auftürmen würden, die bis zum Sommer nicht abschmelzen könnten. (...also wirklich jetzt!)
'Wenn ich hier eins lerne, dann ist es Gelassenheit', sagte ich mir und drückte Philippas Hand ein wenig fester.

Doch jeder weiß, dass zu einer guten Geschichte auch Retter gehören... Prinzen, Superhelden oder hilfsbereite Isländer. Tatsächlich! Ein funktionsfähiges Fahrzeug hielt neben uns und heraus stieg ein elegant gekleideter Mann, der unserem Fahrer zu dirigieren begann seine Reifen aus den Schneemassen zu befreien, sodass der Wagen zumindest an der Seite "parken" konnte.
"Ich kann die Mädchen mitnehmen, ich habe eine Farm im Valley", vernahmen meine Ohren dann. Dem Fischgeruch und der Kälte entkommen, stiegen wir in ein neues Gefährt, mit einem lachenden Opa auf dem Vordersitz, einem Tabakschnupfendem Fahrer und drückten uns mit dem elegant gekleideten Herrn auf den einzig freien Sitz. Es fühlte sich ein wenig heimelig an, denn der Wagen roch wohlig nach Schaf und Bauernhof. "Wir waren auf einem Geburtstag... also nein, eher auf einem Meeting. Mit dem Bauern aus dem Valley. Wir mussten den Bürgermeister überzeugen, dass wir die schwierige Brücke über den gefährlichen Fluß bauen. Wollt ihr Schnaps?"
Womöglich lag die gute Stimmung nicht nur am Schafsgeruch und der Freude am Wetter. und "JA!"
Nach etwa weiteren zwei Stunden kamen wir schließlich auf dem Farmgelende an, wo wir mit freudigem Kläffen dreier Hunde empfangen wurden, von denen einer schwanzwedelnd in die entgegengesetzte Richtung lief und sein Herrchen ihn mit "dummer, blinder Hund!" begrüßte.
Die Welt zu Gast bei Freunden.
Touristen zu Gast bei Einheimischen.
Philippa und Julia zu Gast beim Retter der Situation.
Ich verkniff mir eine Freudenträne.

"Mädchen, man wird nicht jeden Tag aus einem Schneesturm gerettet. Skál!" - "Prost!"
Die kleine Reise endete mit Haferbrei und leichten Kopfschmerzen am nächsten Morgen zum Frühstück. Dieser Teil der Suppengeschichte auch.

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Jón, iß deine Suppe jetzt!