Mittwoch, 2. September 2015

Economy Island


„Es la cobra“ - „TAKA TAKA“, ruft die ganze Band im Chor. Mario streift sich ein dunkles T-Shirt mit Schlangenprint über und zieht sein iPhone aus der Hosentasche. „Taka takaa takaa takka taka taka“ Héctor schaut auf den kleinen Bildschirm in Marios Hand und lacht herzhaft über den Mann in Bademantel, der sich eine Socke über die Hand gestülpt hat und sie wie eine Kobra zu seinem wirren Sprechgesang kreisen lässt. „Das hat mir Mario gestern gezeigt, als ich nicht schlafen konnte“, sagt Héctor. Die Cobra Taka Taka wird uns die nächste Zeit begleiten. Manchmal spricht Mario den Text vor bis zu der Stelle, an der die Kobra aus einem Schwimmbecken kommt. „De una piscina“, brüllt Julia dann. Es sind die einzigen Worte, die sie auf Spanisch sagen kann.

Ob ich noch einen Kaffee möchte, fragt Julia. „Och, warum nicht“, sage ich. Julia setzt den Espressomaker auf den Induktionsherd. Mario schüttelt den Kopf und steckt sein Handy wieder ein. „Das ist doch sicher dein fünfter Kaffee heute.“ - Julia zählt. „Nein, der vierte! Und etwas müde bin ich immer noch.“ Mario erwidert mit erneutem Kopfschütteln „Du hast Probleme, Julia. Anämie!“

Es ist Anfang August. Girls on Bikes haben sich in der Heimatstadt der Brüder Héctor und Mario in der Region Asturias, im Norden Spaniens getroffen, um mit befreundeten Musikern aufzunehmen. In Asturias seien einige der schönsten Strände Spaniens zu finden, heißt es. Das Klima und die Landschaft unterscheiden sich stark vom Rest des Landes. „Jeden Tag regnet es hier mindestens einmal“, sagt Mario. „Aber nie so richtig. Das ist noch weniger als Nieselregen. Man nennt den Regen orbayu. Deshalb ist es hier auch so grün.“ Von der schönen Landschaft und den Stränden ist in dieser Kleinstadt jedoch nicht allzu viel zu sehen. Las Vegas heißt der Ort mit knapp 8.000 Einwohnern, der größtenteils aus Betonblöcken und Rentnern besteht. „Beste Straße“, sagt Mario, als wir in eine verlassene Seitengasse gehen, um zum Supermarkt zu laufen. Er zeigt auf ein zerfallenes Haus, dessen Dachfenster von einem Banner ZU VERKAUFEN verdeckt werden. „Bandimmobilien“, sagt er und lacht. Julia möchte sich im Supermarkt noch eine Flasche Wasser kaufen, weil ihr das lokale Leitungswasser nicht allzu gut bekommt. „Bestes Quellwasser!“, sagt Héctor „nach einer Woche schmeckst du das Chlor gar nicht mehr. Von Bakterien kann man sterben, von Chemie nicht.“ Wir überqueren die Straße. Mario bleibt vor einem Schaufenster mit Damenklamotten stehen. „Eh, das musst du bei unserem Auftritt anziehen.“ Er zeigt auf ein weißes Kleid im 60er Jahre Stil mit großen, gelben Punkten. „Und wir beide schwarz. Ich natürlich mit Kobrashirt.“ „TAKA TAKA“, sagt Julia und schüttelt den Kopf. „Wir können abstimmen“, sagt Héctor „wir sind eine demokratische Band. Auch wenn ich das Sagen habe.“ Héctor und Mario heben die Hand. „Zwei gegen Eins. Dann gehörst du auch endlich dazu. Du hast ein Kleid aus dem Block.“ Mario rüttelt an der Tür. Der Laden hat wegen Urlaub geschlossen.

Ob ich auch ein Schluck Wasser möchte, fragt Julia. „Oder einen Kaffee?“ Mario zwinkert. Nein, danke, aber wie sich die Band gefunden hat, würde ich gerne wissen.
Julia: „Übers Internet. Héctor hat Musiker im Raum Heidelberg auf quoka gesucht. Ich habe mich auf die Anzeige gemeldet. Mario hat bei der ersten Probe damals noch nicht so gut Deutsch gesprochen. Er fragte mich was ich studiere. Ich sagte ich sei Jurastudentin. Daraufhin antwortete er: „das macht nichts.“ Was er eigentlich meinte, wissen wir bis heute nicht, aber es war die richtige Antwort.“ (lacht)
Héctor: „Momentan suchen wir noch einem Schlagzeuger. Aber über das Internet machen wir das bestimmt nicht nochmal. Auf solche Bandgesuche melden sich nur Verrückte. Und Julia.“
Mario: „Davor hatten sich nur Metal-Bands gemeldet, obwohl Héctor als Einflüsse Metronomy und St. Vincent angegeben hatte. Einmal meldete sich ein Mike aus Kirchheim, dem Stadtteil in Heidelberg, in dem Héctor wohnt. Wir dachten Mike ist der Verkäufer aus dem Edeka, aber er war es leider nicht. Mike hat Héctor ins Kirchheimer Stüble eingeladen, eine verrauchte Kneipe für Altrocker, in der man nur Bier bestellen kann. Er hat für Héctor extra Instantkaffee organisiert, weil er „auf einen Kaffee treffen“ wörtlich genommen hatte. Leider hat es musikalisch doch nicht gepasst.“
Héctor: (lacht) „Das ist jetzt fast neun Monate her. Kurz darauf hat sich Julia gemeldet. Zusammen haben wir fast 15 Songs geschrieben. Dafür, dass wir nicht immer zusammen proben können und uns nur einmal die Woche treffen, ist das ganz gut“
Mario: „Aber fertig sind die noch nicht alle. Vor allem müssen wir noch die Texte lernen.“
Julia: „Und wenn wir sie nicht lernen, ist auch nicht so schlimm. Songtexte in der Popmusik werden sowieso überbewertet. Wenn die Musik schlecht ist, helfen dir gute Texte auch nicht weiter.“
Héctor: „Die Texte hat Julia fast alle an einem Abend geschrieben. Sie schrieb mir auf Facebook, ob ihr die letzten Demos schicken kann. Eine halbe Stunde später bekam ich Textdokumente für drei Songs. Bis Mitternacht waren alle Texte fertig.“
Julia: „In dieser Band bin ich keine Songwriterin. Ich übersetze nur, was im Probenraum entsteht. Jeder singt irgendetwas vor sich hin, das klingt als wäre es Englisch. Ich übersetze es in Sätze, die grammatikalisch zumindest nicht komplett daneben sind.“
Héctor: „Einmal haben wir uns eine Songidee angehört, auf der wir dreistimmig gesungen haben. Jeder hat andere Worte verwendet, doch beim Anhören haben wir alle das Gleiche verstanden: Economy Island.“
Mario: (singt) It's you. You'll never be the best. (Héctor und Julia steigen ein) It's you, babe, slow down. It's you. You know you'll never find economy island.
Julia: „Das ist vielleicht unser bester Song. Kritik an der Leistungsgesellschaft.“
Héctor: „Tatsächlich. Bisher hat keiner von uns die Wirtschaftsinsel gefunden.“ (lacht)
Mario: „Temazo!“ (was so viel bedeutet wie „Hit“)

Ich begleite die Band in Marios altes Zimmer. In Deutschland ist Mario nicht bei jeder Probe dabei. Héctor und Julia studieren in Heidelberg. Mario wohnt im 60 km entfernten Darmstadt und muss noch einen Deutschkurs belegen, um sein Master in Deutschland machen zu dürfen. Umso mehr möchte die Band die Zeit in Spanien nutzen, um die Songs gemeinsam zu proben. Zwischen Fußballplakaten und Kinderfotos kramt Mario in einer Netto-Tüte voller Kabel, während Héctor seine Pedale in einen Rucksack räumt. Julia sortiert einen Stapel Songtexte. Die Band bereitet sich auf ihren ersten Auftritt vor. Sie spielen heute Abend in der Bar eines Freundes im nahegelegenen Oviedo.
Héctor: „Kennst du den Film Vicky Christina Barcelona von Woody Allen? Den haben Julia und ich gestern angeschaut. Ein Teil davon wurde in Avilés gedreht. Das ist die nächste große Stadt hier. Als gedreht wurde, war die ganze Stadt auf den Beinen, um die Stars zu sehen. Der Film spielt in Oviedo, in der Stadt in der wir heute spielen. Das Hotel, in dem die beiden Protagonistinnen wohnen, ist das einzige richtige Hotel in Oviedo. Woody Allen hat gesagt, falls er jemals in Rente gehen sollte, setzt er sich in Oviedo zur Ruhe. Er liebt diese Stadt. Die haben ihm sogar ein Denkmal gebaut.“
Mario nimmt die Nettotüte in seine rechte, einen kleinen Verstärker in seine linke Hand und macht sich samt Gitarre auf dem Rücken als erster auf dem Weg zum Auto.
Mario: „Wir müssen heute mit unseren alten Instrumenten spielen. Und ohne Mikrofone. Und ohne Schlagzeuger. Zumindest bekommen wir einen guten Bass ausgeliehen in der Bar.“
Julia quetscht sich zwischen zwei Gitarren auf die Rückbank und gibt einen Laut von sich, der bestätigt: Trotz ozeanischem Klima ist das Auto ziemlich warm.
Héctor: „Oh schön! Bandsauna.“
Eine knappe halbe Stunde fährt man von Las Vegas nach Oviedo.
Héctor: „Wir spielen heute im Café Paraiso. Paraiso – so heißt auch die Straße. Es ist die letzte Straße im Ausgehviertel. Dann kommt dort nicht mehr viel. Bevor Colino dort seine Bar vor drei Jahren eröffnet hat, war dort nichts. Es war die Pinkelstraße.“
Vorm Café Paraiso hilft Colino Héctor und Julia das Equipment zu tragen, während Mario nach einem Parkplatz sucht. Colino, der einen Bart im Gesicht trägt, von dem Männer der Hipster-Generation nur träumen, heißt eigentlich Jésus, wird von seinen Freunden aber nur beim Nachnamen gerufen. Er ist Bassist der Band Autotan und ein guter Freund von Héctor. Die beiden haben damals zusammen gewohnt und gemeinsam in einer Band gespielt.
Conlino: „Héctor! Que tal? Schön dich zu sehen. Das ist also deine neue Band. Was macht ihr für Musik?“
Héctor: „Wir sind eine Pop-Band. Aber falls du Werbung für uns machen willst, sag einfach wir sind voll 80er. Das kam bisher immer gut an.“
Colino tippt etwas in sein Smartphone und drückt seine Zigarette aus. Seine zweite, seitdem wir angekommen sind.
Colino: „Ok! Girls on Bikes! Ihr habt Euch die richtige Location ausgesucht.“ Er zwinkert.
Unschwer kann man im Café Paraiso Colinos Leidenschaft erkennen: Rennräder. Neben der Eingangstür am Fenster, das mit einer modernen Grafik versehen ist, stehen drei Fixies, an der italienischen Kaffeemaschine kleben Fotos von berühmten Rennradfahrern. Héctor zeigt auf ein Gesicht: „Das war ein berühmter Radfahrer aus der Region. Der ist an Drogen gestorben.“ Colino kippt den Aschenbecher in den Mülleimer und beginnt die Tische zu wischen, Mario entwirrt die Kabel aus der Netto-Tüte.
Colino: „Als ich die Bar eröffnet habe, hatte ich weder Ahnung von Kaffee, noch davon, wie man eine Bar führt. Das ist die spanische Mentalität. Wir planen das nicht so wie bei Euch in Deutschland. Man macht einfach mal und meistens geht es daneben. (lacht) – (zu Héctor) oh übrigens, wir können nicht mit Pablo aufnehmen. Der dreht gerade ein Video für seine Band Pablo und Destruktion und spielt dann noch auf einem Festival im Süden.“
Julia: „Ich dachte wir sind zum Aufnehmen hier her gekommen?“
Héctor: „Ja, so ist das. Kann man nichts machen.“
Colino: (zu Julia) „In Spanien sagt man: Es todo lo mismo. Es ist alles das Gleiche. Das solltest du dir merken!“
Vor der Bar bleiben zwei Mädchen stehen und suchen das Fenster nach den Öffnungszeiten ab.
Colino: „Kommt rein! Oder kommt später. Da spielt eine coole Band.“

Die Mädchen sollten wieder kommen. Als zwei von zwölf Gästen, um den ersten Gig von Girls on Bikes zu sehen. Am lautesten klatscht die Mutter von Héctor und Mario. Es ist unschwer zu erkennen, dass sie mit mindestens einem Mitglied der Band verwandt ist. Der erste Song ist Sofia (Never too far away). Er ist der besten Freundin von Julia gewidmet, die sie vor zwei Jahren in Island kennengelernt hat. Eine Österreicherin, die diesen Sommer in Wien ihr Schauspielstudium beginnt und die Band mit qualifizierten Kommentaren auf Facebook unterstützt. Man spürt die Anspannung des ersten Gigs. Mit alten Instrumenten. Ohne Mikrofone. Ohne Schlagzeuger. Blätter mit Textnotizen liegen auf dem Boden. Die Band hat sich in einer Ecke des Raumes zwischen zwei Lampen zusammengesetzt, von der nur eine angeschaltet ist. Mario singt mit geschlossenen Augen. „Der hätte lieber mit Sonnenbrille spielen sollen“, flüstert mir Colino zu „und Julia singt zu leise.“ Doch die Mehrstimmigkeit sitzt. Julia singt eine tiefe Frauenstimme, Héctor eine hohe Männerstimme. Mario singt eine Art Tenor der Popmusik. Man kann den Einfluss von Wild Beasts in seinem Gesang deutlich hören. Die Menschen klatschen. Die Band entspannt sich. Julia greift zur Akustikgitarre, Mario und Héctor tauschen Bass und E-Gitarre. I don't know what it is that you never find, what you're searching for. Auch wenn die Band sich gerne als „voll 80er!“ verkauft, erinnert das Intro und die Harmonien im Gesang eher an einen Song, der zwanzig Jahre zuvor in den 60es geschrieben wurde. Nach Now I feel, einem Song mit beachtlicher Kopfstimme im Refrain und The Hunter and the Hide, was die Band selbst nur „traurigen Song“ nennt, schließt Mario vier Pedale an seinen Bass an. Er macht laute Geräusche. Mit vielen Effekten. Héctors Gitarre setzt ein. Würde die Band nicht in einer kleinen Bar in Oviedo , sondern auf einem größeren Festival spielen, wäre das der richtige Einstieg. Atmosphäre – Atmosphäre – Mädchen mit Blumenkränzen in den Haaren schließen die Augen und werfen die Arme in die Luft. Die zweite Gitarre setzt ein, ein Dreinotenriff, die Masse jubelt. - Pause – Die Masse jubelt weiter. „It's you. You'll never be the best“ - „It's you, babe, slow down.“ - „It's you“ - „You know you'll never find -“ und die Masse brüllt: „Economy Island!“ Gitarrensolo. Mädchen mit Blumenkränzen in den Haaren schließen die Augen und werfen die Arme in die Luft.
„Nächstes Jahr bewerben wir uns als Newcomer Band beim Maifeld Derby. Vielleicht wird es dann genau so sein“, sagt Julia nach dem Gig.
Ein beleibter, älterer Herr kommt auf Héctor zu und wechselt ein paar Sätze auf Spanisch mit ihm, bevor er Richtung Tür geht und der gesamten Band nochmals zunickt. „Das war ein Schriftsteller aus Avilés“, sagt Héctor „er mag unsere Musik. Es erinnert ihn an irgendwelche Bands.“ - „Was für Bands?“ - „Keine Ahnung. Ich habe gesagt wir zählen sie zu unseren Einflüssen. Es todo lo mismo.“