"Die Atmosphäre der Stadt, diesen leicht fauligen Geruch von Meer und Sumpf, den zu fliehen es ihn so sehr gedrängt hatte, - er atmete ihn jetzt in tiefen, zärtlich schmerzenden Zügen. War es möglich, dass er nicht gewußt, nicht bedacht hatte, wie sehr sein Herz an dem allen hing?"
(aus: Mann, Thomas: Der Tod in Venedig)
Es klopft an der Tür. Meine Mitbewohnerin bleibt im Türrahmen stehen. Irgendwo zwischen ausgebreiteten Zeitungen, Postkarten und Holzstiften sitze ich mit Kleber im Gesicht; neben mir mein Laptop, aus dem auf voller Lautstärke melancholische Musik erklingt.
"Wenn du Kaffee möchtest, komm in die Küche." Ich nicke ohne zugehört zu haben und streiche die vier Schichten Klebeband, die eine Fährenfahrkarte auf Karton fixieren sollen mit meinem Handrücken glatt.
Es ist angebracht sentimental zu werden, finde ich.
Auch wenn Abschiede für mich in den letzten Tagen an Bedeutung verloren haben. Zum vierten Mal diese Woche werde ich zum "letzten Bier" in ein Hostel dieser Stadt geladen. Heute Abend spielt dort eine funky Reggeaband. Neun Mann, Offbeat, Saxophonsolo. Ein Lied heißt "Tanzen". Warum der Sänger plötzlich "Wir wollen tanzen" mit verschobener Betonung adaptiert aus dem Isländischen ins Mikrofon brüllt, verstehe ich nicht ganz. Aber ja, wir wollen tanzen. Es werden Tische beiseite geschoben, aus dem Raum getragen und vor der Bühne finden sich ein paar vereinzelte Gestalten zusammen und steigen bei jeder zweiten und vierten Achtel von einem Bein aufs andere. Die Stimmung ist gut und sogar der Alkoholpegel, der Isländer üblicherweise erst zum Hüfte kreisen anregt, ist heute erstaunlich niedrig.
Die Frau mit den dunkelgeschminkten Augen und den wasserstoffblond gefärbten Haaren nickt mir grüßend zu und lächelt. Sie ist jeden Donnerstagabend an der Bar und gab mir Bier aus als ich anstelle der funky Reggeaband vor zwei Monaten hier auf der Bühne stand.
Damals kam nach meinem Konzert ein amerikanischer Tourist auf mich zu und gab mir den Rat meines Lebens: "Kennst du den dicken Mann aus Hawaii, der auf der Ukulele 'somewhere over the rainbow' spielt? Den solltest du dir definitiv mal anhören!" Worte eines Musikexperten.
Als ich entgegnete: "Aber ich kann nur vier Akkorde, nur diesen einen Song auf der Ukulele spielen. Meine Freunde haben mir damals eine Ukulele geschenkt, weil ich zu viele traurige Songs spiele", sah mich der Amerikaner ganz bedrückt an, legte mir väterlich die Hand auf die Schulter, scheufzte und sagte: "Eben, Mädchen, du spielst zu viele traurige Songs."
Unterdessen stehe ich irgendwo zwischen isländischen Mädchen, die aussehen als seien sie aus einem Modemagazin ausgeschnitten, einer Mutter mit zwei kleinen tanzenden Knirpsen und zwei korpulenten Wikingern. Ich bin mir nicht ganz sicher wer, aber einer dieser Personen riecht markant nach Trockenfisch. Ich schiebe mich durch das Gedränge zurück an den Tisch, an dem das letzte Bier steht. Außer der Bekannten, die zum letzten Bier geladen hatte, kenne ich niemanden.
Im Laufe des Abends soll sich aber herausstellen, dass das nette schwedisch-isländische Mädchen und ihr englischer Freund Freunde des besten Freundes meiner Mitbewohnerin sind und dass mein ehemaliger spanischer Mitbewohner vergessen hat den Pyjama des englischen Freundes des netten schwedisch-isländischen Mädchen zurückzugeben.
Die Welt ist klein. Diese Insel auch. Und diese Stadt erst.
Ein Engländer, um dessen Nase sich eine ganze Menge Sommersprossen versammeln, zieht mich zur Bar und will mir ein Bier ausgeben. "Es ist Donnerstag, die Bar ist bereits geschlossen." - "Oh."
Alle drängen zu gehen, denn in der Bar zwei Straßen ist Happy Hour, eine fröhliche Stunde voll tanzender Menschen.
Die Bekannte drückt uns zum Abschied. "Falls du mal in Stuttgart bist, komm vorbei."
Abgang. Vorhang fällt.
Eine SMS, auf die ich nie eine Antwort erhielt, eine Umarmung, die länger dauerte als gewöhnlich und ein Buch, das mir in die Hand gedrückt wurde mit den Worten: "Das musst du mir persönlich zurückgeben. Wir werden uns wiedersehen." 1, 2, 3 Menschen aus dem Umfeld gestrichen. Abschied am Fließband, Produktion von Wasser in der Tränendrüse.
Und so sitze ich mit Kleber im Gesicht zwischen ausgebreiteten Zeitungen, Postkarten und Holzstiften und streiche vier Schichten Klebeband, die eine Fährenfahrkarte auf Karton fixieren sollen mit meinem Handrücken glatt. Denn es ist an der Zeit auszumisten: Klamotten, Papiere und Emotionen.
Ich schütte den Inhalt meiner ziemlich hässlichen rosa-orangenen Kiste auf den Boden. Hier glaubt jemand an das Aufbewahren von Erinnerungen in Form von Zetteln, Heftchen und Briefen. Eintrittskarten vom Zirkus, mein altes Busticket und isländische Einkaufszettel werden mit dem sanften Geruch nach Lösungsmittel in mein Islandbuch geklebt. "Happy Birthday, Julia", "Frohe Weihnachten", "liebe Grüße aus der Toskana".
Am Ende ist das Buch so dick, das ich es nicht mal mehr zuklappen kann. Ich reiße die unbeschriebenen Seiten raus. Besser.
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Ich habe neulich gelesen, dass Entscheidungen von dem Teil des Gehirns beeinflusst werden, der für Emotionen zuständig ist. Entscheidungen sind nur bis zu einem bestimmten Grad "rational". Gezeigt hat dies ein gewisser Elliot, dem 1982 ein Tumor aus seinem Gehirn entfernt wurde. Seine Intelligenz litt nicht unter den Folgen der Operation, aber Elliot war nicht mehr in der Lage irgendeine Entscheidung zu treffen: Allein die Wahl des Radiosenders dauerte für ihn Stunden. Was der Neurologe Antonio Damasio feststellte, war, dass Elliot nicht mehr in der Lage war Emotionen zu fühlen. Er litt durch die Folgen seines Tumors an völliger Gleichgültigkeit. Interessanterweise beeinflusste der Verlust zu Fühlen jegliche Entscheidungsfähigkeit. Gefühl-und Entscheidungslos war Elliot alltagsunfähig geworden.
"Diesen Jogurt hat Oma auch immer gekauft. Und Oma weiß schließlich was gut schmeckt." "Emmentaler... hm... in Tirol war ich schon mal, 100g Tiroler Bergkäse, bitte!"
Dass diese Entscheidungen nicht wirkliche logische Schlussfolgerungen darstellen, sondern eher eine nostalgische Lüge oder vorgespielte Vernunft sind, spielt für uns keine Rolle: Oma steht für Qualität. Und was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht.
Begrenzte Rationalität wird dies genannt.
Wir leben in ständiger Repetition. Schlussstrich mit zwei Punkten. Beginne bei Takt 1.
Unser Gehirn geht gegangene Wege nochmals. Und nochmals.
"Eine Kugel Vanilleeis bitte. Das nehme ich immer."
Die gleichen Fehler begehen wir und öfters als man es sich eingestehen will wählt man den Beruf der Eltern. Aus Gewohnheit. Weil wir immer und immer wieder Strom über dieselben Synapsen leiten.
...
Ich sitze mit einer Tasse fürchterlichem Kaffee, der nur durch die gleiche Menge Milch genießbar ist mit meiner Mitbewohnerin in der Küche. "Ich glaube jetzt ist wohl die beste Zeit um Entscheidungen zu treffen", sage ich.
Durch den geballten sentimentalen Emotionsfluss sagen zu dürfen rational entschieden zu haben mit der Erlaubnis das Gleiche, immer das Gleiche tun.
Meine Mitbewohnerin ist 28 und sucht nach einem Job, muss sich entscheiden, wo sie jetzt eigentlich leben will. Ich renne in mein Zimmer, hole mein Islandbuch hervor und rufe ihr zu: "Lass uns tanzen."
Und wenn mich jemand fragt, was ich denn jetzt vorhabe im Leben, antworte ich: Eine Träne im Knopfloch vergießen, dabei die Vergangenheit zelebrieren, auch wenn ich oft gemault habe, so wie ich das immer mache und dann,... ja, richtig, ich muss noch eine Wohnung finden.
Eine mit hohen Decken und Altbauflair. Weil das zu Hause auch so war.
Die hässliche rosa-organene Kiste ist jetzt leer, das Islandbuch vollgeklebt.
Doch ich lese das hier nochmals durch und ersetze gedanklich "Reykjavik" durch "Heidelberg".