Samstag, 21. Juni 2014

Luft! Luft! Mir erstickt das Herz!

Bis ins 18. Jahrhundert war es in Frankreich verboten den "Kuhreihen", ein Hirtenlied, zu singen oder gar nur zu pfeifen, da Schweizer Söldner beim Vernehmen dieser Klänge anscheinend massenhaft erkrankt oder desertiert seien. 
Der Begriff "Heimweh" war zunächst ein medizinischer und tauchte erstmals im 17. Jahrhundert in der Schweiz auf. 
Das, woran die Soldaten in Frankreich litten und woran sie teils verendeten, wurde als "Nostalgia" erstmals 1688 vom Arzt Johannes Hofer in Basel als Krankheit beschrieben und ist noch heute unter der "Schweizer Krankheit" bekannt. 

Gestern habe ich Versicherungspapiere ausgefüllt:
"Beschreibung der Behandlung: neue Brille [...] Grund der Behandlung: ..." Ich setzte meinen Stift an und überlegte. "ich sehe nichts." vielleicht; oder "Europa zahlt dafür". Ich entschied mich für "mit der Zeit gehen". Denn als junge, moderne Frau ist es für mich unabdingbar mir ein neues Brillengestell zuzulegen. Ich trug meine Kontonummer in die letzte Spalte ein und unterzeichnte, dass diese Angaben korrekt seien. 

Beschreibung der Behandlung: "Schweizer Krankheit", Grund der Behandlung: "Luftveränderung", so wie es Johannes Hofer im 17. Jahrhundert deutete.
Sicherlich, die klimatischen Bedingungen hier sind andere. "Hallo Mama, ich habe einen Sonnenbrand auf der Nase. Das ist der heißeste Tag im Jahr, 14°C! Nahezu tropisch!", schrieb ich letzte Woche. Als Antwort erhielt ich: "Schmier Quark drauf. Kuss, Mama" und dazu einen Link zur Wettervorhersage in Stuttgart. 38°C. 
Hofers "Luftveränderung" muss sicherlich auf einer anderen Ebene betrachtet werden. Einer atmosphärischen womöglich.
Denn meine Versicherung wird mir meine Hofer'ischen Papiere wahrscheinlich mit dem Stempel "aus der Luft gegriffen" wieder dorthin zurücksenden, wo sie hergekommen sind. Nach Island, bewölkt, 14°C.


Die Problematik "Luftveränderung" ist eine internationale. Das, was im Deutschen, "in der Luft liegt", funktioniert Wort für Wort auch im Isländischen: "Það liggur eitthvað í loftinu", wird im Englischen aber ein Seinszustand "There is something in the air", während im Polnischen Dinge in der Luft "hängen", so wie der Nebel über einer Stadt ("coś wisi w powietrzu", bzw. "nad miastem wisi mgła").
Der emotionale Aspekt wird in allen genannten Beispielen mit einer meteorologische Ebene verknüpft, sodass die Stimmung einer Voraussicht allumfassend beschrieben werden kann.
Wenn der Volksmund dann sagt "du kannst nicht nur von Luft und Liebe leben", unterschreibt er vielleicht auch ein Versicherungspapier und gibt Hofer recht, dem zufolge Menschen sogar an der Luft, die sie atmen, sterben, einsam und melancholisch.



Betrachten wir den Befall von Heimweh also als Änderung der Luftzusammensetzung, Veränderung der Atmosphäre, haben wir es sowohl mit einem chemischen, als auch mit einem emotionalen Problem zu tun. 

In meinen grauen, winterlichen Tagen hier, in denen die Luft Minusgrade betrug, habe ich mir oft verboten mein Hirtenlied zu singen. Ich sagte mir: Auch Reykjavik ist eine Stadt, in der ich als Stadtkind leben kann, auch hier gibt es Menschen, mit denen man als soziales Wesen Konversation führen kann, auch hier gibt es Dinge zu tun und zu essen, Kunst zum Ansehen und Bücher zum Lesen, Musik zum Anhören und Konzerte zum Hingehen. Meine Bedürfnisse sollten gestillt sein, warum diese Trägheit?


Viele Menschen verlieben sich in Island und sagen dann, dass die Natur sie beflügelt, die Menschen so offen wären und das Leben hier ganz wundervoll sei. Ich höre mir diese Geschichten gerne an, aber nur bis zu dem Punkt, an dem ich weiß, woher die Menschen kommen. Denn Islands Landschaft mag schön sein, doch "Schönheit" ist kein feststehender Begriff, sondern eine philosophische Fragestellung. Der Wald vor meiner Haustür war schön, ebenso der Urlaub in Spanien und sogar den Korntaler Acker kann man im Sommer schön nennen. 
Seitdem "Mut zur Hässlichkeit" sich in Ästhetik und Kunst etabliert hat, herrscht ohnehin Anarchie in der Begrifflichkeit des Schönen.
Orte mögen im Sinne der allgemein gültigen Ästhetik sicherlich von der Mehrheit der Menschen als "schön" empfunden werden, doch was sie für uns besonders macht, ist nicht die Wahrnehmung selbst. "Schöne" Orte findet man überall. 
Ein Lied, ein Ort, eine Zeit gewinnt dann erst an Bedeutung und geht über die reine Wahrnehmungsebene hinaus, wenn wir die Luft, die wir um sie herum atmen, miteinbeziehen.
Die Zusammensetzung, die die Chemie zwischen Menschen stimmen lässt; die Luft, die meine Lunge rein macht und meinen Kopf mit Sauer- und Süßstoff füllt.

Hier habe ich oft über den Begriff der "Heimat" nachgedacht, nach der man sich im Ausland anscheinend manchmal sehnt. 
Einerseits, weil ich zwei Sprachen verstehe, doch nur eine meine Muttersprache nenne und hier aber in der größten Minderheit des Landes eine Mentalität sehe, die ich besser zu verstehen glaube  als Menschen, die keinen Bezug zu diesem Land haben. 
Anderseits, weil ich als Deutsche am Tag der deutschen Einheit niemals einen Kuchen mit Nationalfarben gegessen habe, während ich meine Kindergartenkinder hier am 17. Juni Fahnen- und zuckerwatteschwenkend durch den Regen der Hauptstraße ziehen sah.

Eines Tages, an dem ich mich als einen Patientin Hofers verstand, endete mein Versuch durch die Stadt zu schlendern in Tränen und Erinnerungen an all die Orte, die zu Hause so viel besser waren. 
Die Kneipe, in der man immer saß, die Brezel, die man immer aß, den Wald, in dem man spazieren ging. 
Jetzt, da sich im Sommer die Zusammensetzung des Windes verändert hat, weiß ich, dass nur etwas in der Luft lag. nostalgische Phantasien, die Sehnsucht nach Etwas, was ich zu vermissen glaube, dessen eigentlicher Kern aber nur das Abhanden sein einer bestimmten Emotion zugrunde liegt.

Wenn ich in anderthalb Monaten wieder "zu Hause" bin, werde ich sicherlich auch flache Pfannkuchenbrote, kostenloses Wasser und furchtbare Mayonaisensandwiche von der Tankstelle vermissen, weil ich das Fehlen einer Emotion in Momenten auf Dinge, die ich in Island besitze und in Deutschland nicht, übertragen werde und weil vor allem der deutschsprachige Raum an "Nostalgia" leidet.
Zum Glück kann man hier vorsorgen. Im Touristenshop gibt es Gläser mit Isländischer Luft für ca. sechs Euro.
Beschreibung der Behandlung: "homöopathisches Mittel gegen Luftveränderung" Grund der Behandlung: "Vorsorge gegen Schweizer Krankheit". 













Donnerstag, 5. Juni 2014

Kritik der reinen Vernunft / Vernunft der reinen Kritik

Ein Glück, dass jeder Tag ein "Welttag" ist.

Zum Frühstück gratulierte mir meine Mitbewohnerin zum Weltkindertag.
Schließlich sei ich ja das Kind der WG, sagt sie. Ich biss in mein Brot und stimmte ihr nickend zu.
Höchst modern ist meine neue WG nämlich angelegt: Zusammen in dieser Wohnung, die zugestellt ist mit antikem Krempel, kitschigen Gemälden und urigen Möbeln, aus denen nachts Zeitgeister fliegen, wohnen mein isländischer Vermieter, 40, schwul, Geschichtslehrer, der ständig eine gewissen Art von Witzen reißt, denen meine deutsche politische Korrektheit nicht mehr als müdes, höfliches Lächeln schenken kann; meine polnische Mitbewohnerin, 28, die sich selbst als Emigrant/Immigrant bezeichnet und eine Exceltabelle mit den Adressen ihrer alten Behausungen, erste Spalte beginnend mit "Country"führt und ich, Julia, 19, Kind der WG.

Doch nicht nur der Weltkindertag findet am 1.Juni statt. Heute feiert Kunibert seinen Namens-, meine Arbeitskollegin ihren Geburts-, Albert Schweitzer seinen ganz persönlichen und wir alle den Weltmilchtag.
Doch während wir gedankenlos in unseren weltlichen Tagen schwelgen und immerzu Gründe zum Feiern finden, äußern 2,1 Millionen Österreicher Kritik an der Benennung letzteren Festes.
Man solle doch bitte den 1. Juni zum "Weltpflanzenmilchtag" umbenennen, fordern sie.

Ohne die große Bedeutung des Weltmilchtages herunterspielen zu wollen, muss ich doch sagen, dass ich bezweifle, dass besagte Umbenennung in die Geschichtsbücher der nächsten Generation geschrieben werden wird.
Aber nein, darum geht es überhaupt nicht, ich weiß doch. Das ist nur ein kleines Puzzlestück im Gesamtsystem aus über einer Millionen Teile. Hier geht es um Ideale und Prinzipien, um höhere Systeme und komplexe Zusammenhänge.
So sarkastisch ich nun klingen mag, ich verstehe die 2,1 Millionen Österreicher. Meine vegane Phase endete zwar spätestens diesen Freitag als ich 1,5 Kilo Hack für mein WG-Einweihnungsessen in meinen Jutebeutel packte, doch das Beobachten einer Gruppierung, ja, einer Szene und das Nachvollziehen ihrer selbstbezogenen, doch global formulierten Forderungen macht als Unbeteiligter noch viel mehr Spaß.
Spuckt man erst einmal schwarze Milch an die Wand, beginnt bald der Idealismus Früchte zu tragen. Darf der alte Ledergürtel vom Flohmarkt überhaupt noch angezogen werden, sollte man aus Protest nicht verweigern den Kindern im Kindergarten Kakao einzuschenken und wer ist der Veganbeichtvater, dem man gestehen kann, dass man nicht wusste, dass die verzehrten Sojawürste nur laktovegetarisch waren?
Mit dem Eintauchen in solch einen Mikrokosmos klebt man plötzlich fest auf einem Pixel des Gesamtbildes, A0, 841x1189 und empfindet das Werk als einfache Reaktion des eigenen Standpunktes. In diesem Beispiel steht der "Weltmilchtag" nur für einen weiteren Versuch der Manipulation der Masse, die dadurch vom Weg der Erleuchtung durch die Prozesse der Fotosynthese abkommen. Das dem entgegenzuwirken ist, steht außer Frage. Ob man dabei lächerlich wirken könnte, wird belanglos, da man doch für die Sache kämpft.

Meine "vegane Phase" ist tatsächlich wörtlich zu nehmen und hielt über mehrere Monate an. Doch war mein Idealismus nicht stark genug, um Einladungen zum Essen abzusagen. In meinem Kopf verglich ich das mit dem Fastenbrechen an Sonn- und Feiertagen.
Einmal gab es sogar Fleisch. Oh weh. Ich rutschte in schwachen Momenten nicht nur vom Veganismus in den Vegetarismus zurück, nein, ich war nur noch ein schäbiger Flexitarier. Durfte ich überhaupt noch sagen: "Momentan ernähre ich mich vegan?" Eigentlich nicht. Und wenn ich mir manchmal Artikel auf veganen Seiten im Internet durchlese, hätte ich eigentlich schon längst "zu den anderen Asfressern" verdammt werden müssen.
Ich wünsche mir deutsche DIN- Formen. Denn was bedeutet das schon zu sagen "ich bin Veganer" / "Momentan ernähre ich mich vegan."? Wie lange muss ich verzichtet haben? Wie werden meine Aussetzer im Gesamtresümee gewertet? Und dürften nicht - streng genommen - nur Vegangeborene das Wort für sich beanspruchen? Vielleicht betrachte man es mal von der anderen Seite: Jetzt momentan bin ich auch ein Veganer, denn im Moment esse ich nicht. Und meine Luft zum Atmen ist schließlich nicht tierisch.
Vielleicht ist das das Schöne am Idealismus. Wörter in den Raum zu stellen, von denen jeder eine Vorstellung hat, die aber doch fast immer eine Utopie bleiben.

Ursprünglich war meine Intention nicht gewesen in diesem Eintrag eine Diskussion über Veganismus zu führen, doch die eigentliche Reflektion, die ich niederschreiben wollte, ist relativ eng mit besagter Thematik verbunden.
In meiner alten WG wurde Dumpster Diving (also im Müll nach Essen wühlen) plötzlich zum Sport. Ausgehend von unserem spanischem Mitbewohner mutierte unsere Küche manchmal zu so etwas wie einem Selbstbedienungsladen. Erst gestern bekam ich mit Grüßen von der alten Behausung eine Art alternativen Obstkorb, also einen Pappkarton mit Bananen, Brokkoli und Keksen aus dem Container geschenkt.
Ob Müllesser nun "Aussteiger" aus der Gesellschaft sind oder sich am Ende der Nahrungskette nur vom System abhängig machen, sei mal außen vor gelassen.
Lieber eine kleine Anekdote:
Eines schönen Sommertages gab es am Hafen Reykjaviks eine Aktion, um auf unsere Wegwerfgesellschaft aufmerksam zu machen. Es wurde im "Ruslraunt" (rusl [rüstl] = isländisch "Müll") gratis Essen aus ausschließlich gedumpsterten Zutaten verteilt. Die ganze Meute fand sich also zusammen und positiv gesinnt sagte mein ehemaliger Mitbewohner: "Oh, das schmeckt überraschend gut." Die Menschen, die schon ganz tief in die Container gegriffen hatten, ergriffen nun das Wort und ihre Gabeln und hielten eine Predigt darüber wie man denn "überrascht" davon sein könnte. Das sei doch containert, also natürlich gut! Und überhaupt zu wagen dies anzuzweifeln. Pff.
Nun gut. Menschen in ihrem Idealismus zu kitzeln ist das eine. Das andere ist aber, dass es nun einmal nicht selbstverständlich ist, dass Müll gut schmeckt, selbst wenn die Produkte das Haltbarkeitsdatum noch nicht überschritten und Bananen eine feste Schale haben und das alles nur ein Sinnbild für unseren Verschwenderwahnsinn ist - nein, es ist nicht selbstverständlich.
Vom schlechten Gewissen geplagt, wollte ich auch niemals jemandem sagen, wie gut mir besagtes Fleisch in meiner stoischen Zeit eigentlich schmeckte. Denn - verdammt - man kann viel darüber reden die Welt zu retten, doch das Argument des Genusses kann nun mal nicht widerlegt werden.

Was ich sagen möchte ist nicht, dass wir aufhören sollten in unseren Kreisen auf Verschwendung, Weitsicht und bewusstes Handeln aufmerksam zu machen. Ganz im Gegenteil! Aber vielleichte sollten wir uns von dem Gedanken verabschieden, dass wir die eigentlichen Weltretter sind. Denn die eine schimmlige Paprika, die aus dem Müll geholt wird und Menschen in unserer WG Magenschmerzen bereitet, hilft dem Welthunger nun mal leider auch nicht.
Keiner von uns wird der Müllguru oder der Veganerleuchtete und kann sich dadurch das Recht nehmen sich über andere zu stellen und ihr Verhalten zu verurteilen.

Und allen voran möchte ich Menschen bitten ihre Argumentationsreihen nochmals zu überdenken. Im Süddeutsche Magazin gibt es die "Gewissensfragen", so wie das Zeit Magazin die Sparte "Die großen Fragen der Liebe" führt.
Manchmal, wenn es mir zu viel wird mit den Diskussionen über Brandrodung, Welthunger und das perfekte System, frage ich mich auch, ob Michael jetzt andere Frauen anlächeln darf und ob Brigitte ihrer Yogalehrerin sagen soll, dass die Urlaubsvertretung den Kurs besser geleitet hat. Dann freue ich mich noch auf dem Boden geblieben zu sein. Leider begehe ich jedes Mal den Fehler die Kommentare unter diesen Diskussionen zu lesen. Ca. 52% des Wortgefechts besteht nämlich aus einem einzigen Wort: "Erste Weltprobleme". Dieses Wort schreit. Nach dir, deiner Meinung und deinem Engagement.
In diesen Momenten klappe ich meinen Laptop zu, werde mir meiner Nichtigkeit in der Welt bewusst und ertrinke kurz in Weltschmerz oder wie Heine sagen würde "in dem Schmerz über die Vergänglichkeit irdischer Herrlichkeit."
Ich bin ganz froh am Ende meiner kleinen Lebenswehmut doch festzustellen, dass die Antwort auf eine gestellte Frage leider nicht mit ihrer Kategorisierung gefunden ist.
Wenn wir auf die Erste Welt Probleme schimpfen - also auf die unsrigen - machen wir uns es sehr einfach. Wir lenken von ihnen ab, auf Probleme -  große! globale! -  auf die wir weder jetzt, noch morgen - im Gesamtsystem aus über einer Millionen Teile - eine Antwort finden werden. Im Endeffekt müssen wir gar nichts mehr beantworten. Wundervoll.

Ein Glück, dass jeder Tag ein Welttag ist.
Einer, mit Problemen aus der Ersten. Und mit Schmerz aus der ganzen.