Donnerstag, 3. April 2014

Suppengeschichten.

"Einmal wollte ein Kind seine Suppe nicht essen. Die Mutter hat gesagt: 'Ich will dich füttern." Das Kind hat gesagt: 'Die Suppe ist viel zu heiß!' Die Mutter hat in der Suppe gerührt. Jetzt war die Suppe gar nicht mehr heiß. Aber das Kind hat den Kopf zur Seite gedreht und es hat gesagt: 'Ich habe keinen Hunger. Ich will nicht essen. Ich will spielen.' Da hat die Mutter dem Kind eine Suppengeschichte erzählt." (Wölfel, Ursula: Siebenundzwanzig Suppengeschichten)

Dienstags sind Suppentage im Kindergarten. Um genau zu sein: Suppen- und Brottage. Heute hat Jón seine Suppe nicht gegessen. Er wollte nur Brot. "Nur zwei Löffel, dann bekommst du Brot." "NEI!" Platsch Platsch. Ich bezweifle, dass Jón mit seinen ungelenken Bewegungen versucht hat die Suppe in seinen Mund zu befördern. 
Vielleicht hätte ich ihm auch eine Geschichte erzählen sollen. 
'Die Geschichte von dem Mädchen, das immer maulte, bis es bekam was es wollte.' vielleicht?

Es war einmal...

Ja, ich habe mich viel beschwert: Von Dunkelheit bis Langeweile. 
Island ist so kalt. Island ist so windig. Reykjavik ist so klein. Das Leben hier so eintönig. Die Menschen alle nicht auf meiner Wellenlänge. Das Essen so stinkig und die Musikszene enttäuschend. 

Ich rate dir, Jón: Beschwere dich nicht zu sehr, am Ende bekommst du noch, was du möchtest! Und du weißt: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein!

So kam es, dass ich mir Abenteuer wünschte.

Vor zwei Wochen hat mich meine liebe Freundin Philippa hier besucht. Meine Warnung "Du kannst nicht alles planen, wenn du nach Island kommst", wurde durch die Freude am neuen Reiseführer und deutschem Ordnungsoptimismus ein wenig ignoriert... bis zum Tag der Ankunft.
Mit Philippa kam nämlich auch ein erneuter Schneeausbruch. Mit dem Winter kamen die Straßensperrungen und die Gültigkeit des Winterbusfahrplan (oder sollte ich besser sagen Busnichtfahrplans?) 
Zudem sollte bald der Vulkan Hekla ausbrechen, sodass sämtliche geplanten Wanderungen auf diesem Teil der Insel auch von der Liste gestrichen werden konnten.
Das einzige, das den Anschein erweckte, dass irgendetwas doch nach Plan verlaufen könnte, war unser Ausflug in den Norden. Die Wettervorhersage schien in Ordnung zu sein (jede deutsche Behörde hätte längst alle Menschen evakuiert, der Strom wäre ausgefallen, die Deutsche Bahn entgleist und man hätte in Erwägung gezogen das Militär mit Schneeschaufeln in die betroffenen Gebiete zu senden...), unsere Taschen waren gepackt und eine Mitfahrgelegenheit gefunden.
Mit dieser sollten wir noch eine ganze Weile zu tun haben.

Nachdem der stämmige Isländer mit seinem doch etwas klapprigen Auto zwei Stunden zu spät vor unserer Tür stand und sich mit "Ich hatte noch zu tun" entschuldigte, wusste ich bald, dass sich das ganze als doch nicht allzu gemütlich gestalten sollte. Dazu lag zuviel Krempel neben mir auf dem Sitz. Bereits in enormen Verzug hielt der Herr dann plötzlich ohne irgendeine Vorwarnung in einem Wohngebiet um "eine Tasche" zu holen und kam nach zwanzig Minuten mit einem Computermonitor und drei Tüten Trockenfisch zurück, die den Rest der Fahrt meine wohlriechenden Gesellen sein sollten.
390 km, also ca. fünf Stunden fährt man (normalerweise!) von Reykjavik nach Akureyri.
Diese Rechnung ging diesmal nicht ganz auf. Aber so ist das nun mal im Leben, Stuttgarter Bahnhöfe, Berliner Flughäfen oder eben isländische Reisen. Es kann schon mal passieren, dass sich Kosten oder Zeiten verdoppeln oder vervierfachen.
In unserem Fall kamen eine Autobergung durch ein anderes Fahrzeug mit einem Seil, eine kaputte Heckscheibenheizung und ein wenig Schnee dazwischen, sodass unsere reine Fahrtzeit zehn Stunden betrug.
Um drei Uhr nachts schließlich nahm unser kleiner Ausflug mit dem letzen Aufheulen des Motors vorerst ein Ende. Vor uns: Zwei gestrandete Fahrzeuge, hinter uns: ein hupender Großtransporter, der sich dann aber doch mühelos an uns vorbeischlängeln konnte. Nichts kann die nächste Fischlieferung an BONUS aufhalten. Das bisschen Wind und Eis erst recht nicht.
"Tut mir leid, die Heizung funktioniert nicht", sagte der Fahrer noch, bevor er uns feierlich eröffnete, dass wir nur noch vier Stunden bis zur nächsten Schneeräumung warten müssten.
Nie wieder wünsche ich mir Abenteuer, dachte ich mir und legte meinen Kopf auf eine Tüte Trockenfisch.
Doch was sind schon vier Stunden, wenn man sich die Situation im Osten mal vor Augen hielt. Dort hätte es auch passieren können, dass wir eine ganze Woche im Auto hätten verharren müssen. Momentan kann dort nur einmal die Woche Schnee geschoben werden, da sich sonst Schneeberge auftürmen würden, die bis zum Sommer nicht abschmelzen könnten. (...also wirklich jetzt!)
'Wenn ich hier eins lerne, dann ist es Gelassenheit', sagte ich mir und drückte Philippas Hand ein wenig fester.

Doch jeder weiß, dass zu einer guten Geschichte auch Retter gehören... Prinzen, Superhelden oder hilfsbereite Isländer. Tatsächlich! Ein funktionsfähiges Fahrzeug hielt neben uns und heraus stieg ein elegant gekleideter Mann, der unserem Fahrer zu dirigieren begann seine Reifen aus den Schneemassen zu befreien, sodass der Wagen zumindest an der Seite "parken" konnte.
"Ich kann die Mädchen mitnehmen, ich habe eine Farm im Valley", vernahmen meine Ohren dann. Dem Fischgeruch und der Kälte entkommen, stiegen wir in ein neues Gefährt, mit einem lachenden Opa auf dem Vordersitz, einem Tabakschnupfendem Fahrer und drückten uns mit dem elegant gekleideten Herrn auf den einzig freien Sitz. Es fühlte sich ein wenig heimelig an, denn der Wagen roch wohlig nach Schaf und Bauernhof. "Wir waren auf einem Geburtstag... also nein, eher auf einem Meeting. Mit dem Bauern aus dem Valley. Wir mussten den Bürgermeister überzeugen, dass wir die schwierige Brücke über den gefährlichen Fluß bauen. Wollt ihr Schnaps?"
Womöglich lag die gute Stimmung nicht nur am Schafsgeruch und der Freude am Wetter. und "JA!"
Nach etwa weiteren zwei Stunden kamen wir schließlich auf dem Farmgelende an, wo wir mit freudigem Kläffen dreier Hunde empfangen wurden, von denen einer schwanzwedelnd in die entgegengesetzte Richtung lief und sein Herrchen ihn mit "dummer, blinder Hund!" begrüßte.
Die Welt zu Gast bei Freunden.
Touristen zu Gast bei Einheimischen.
Philippa und Julia zu Gast beim Retter der Situation.
Ich verkniff mir eine Freudenträne.

"Mädchen, man wird nicht jeden Tag aus einem Schneesturm gerettet. Skál!" - "Prost!"
Die kleine Reise endete mit Haferbrei und leichten Kopfschmerzen am nächsten Morgen zum Frühstück. Dieser Teil der Suppengeschichte auch.

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Jón, iß deine Suppe jetzt!